Es gibt kein geschichtliches
Gebilde in Europa, dessen
Existenz so sehr mit den Identitätsproblemen seiner Mitglieder verbunden ist wie Österreich", schreibt der große
Historiker und Publizist Friedrich Heer in
seinem 1981
erschienenen
Werk "Der
Kampf um
die österreichische Identität". Die
"Deutsch-Österreicher"
der Monarchie, die sich
als staatstragende Führungsschicht verstanden, sahen 1918 überwiegend keine
andere Möglichkeit, als in den
Anschlussgedanken zu flüchten. Der sozialdemokratische
Parteiführer und Theoretiker
Otto Bauer sprach vom "verhassten Namen" Österreich.
Vorschläge, wie denn der neue
Staat heißen sollte (nachdem
er nicht, wie von allen Parteien gewollt, "Deutsch-Österreich" heißen durfte) lauteten
auf: Hochdeutschland, Deutsches Bergreich, Donau-Germanien, Ostsass, Deutschmark, Teutheim, Deutsches
Friedland usw. Die Geschichte der Ersten Republik ist großteils die Geschichte einer "radikalen Entösterreicherung" (Ernst
Bruckmüller). Die 1918
gegründete
Republik war
"ein Provisorium, Zwischenstation
auf dem Weg
in ein demokratisches
und sozialistisches Deutschland oder aber
in ein von Mythen durchwehtes Deutsches Reich, in dem
entweder die 'Rasse' oder das
Gottesgnadentum die bestimmenden Kategorien der Legitimation von Herrschaft sein
sollten" (Politologe Anton Pelinka).
Erst nach Hitlers Machtergreifung 1933 in Deutschland
strich die SPÖ den Anschlussparagrafen aus dem Parteiprogramm und der christlich-soziale autoritäre Staat unter
Dollfuß und Schuschnigg
unternahm den tragikomischen und zum Scheitern verurteilten Versuch, Österreich
als den eigentlichen, besseren
deutschen Staat darzustellen.
Die Begeisterung so vieler Österreicher für den Anschluss
und für das Hitler-Regime ist
eine Tatsache, die man mit guten Gründen relativieren
kann, aber ein mächtiger
Grundstock an Zustimmung
blieb – auch über die fürchterliche Niederlage hinaus.
Bruckmüller weist darauf hin,
dass sich noch lange, lange
nach 1945 der Nazi-Jargon
und entsprechend autoritäres
Denken hielten.
Die Politiker der unmittelbaren Nachkriegszeit allerdings kehrten sofort zu dem
Namen und der Begrifflichkeit
Österreich zurück, die 1918
noch so vehement abgelehnt
worden waren (z. T. von denselben Leuten, etwa Karl Renner). Leopold Figl, nach den
Wahlen vom November 1945
Bundeskanzler, in seiner Regierungserklärung: "Wenn wir
immer wieder mit allem Fanatismus heimatverwurzelter
Treue betonen, dass wir kein
zweiter deutscher Staat sind,
dass wir kein Ableger einer anderen Nationalität jemals waren, noch werden wollen, sondern dass wir nichts sind als
Österreicher ..., dann ist
dies ... die tiefste Erkenntnis
aller Menschen, wo immer sie
stehen mögen in diesem Österreich."
Das war damals noch nicht
Allgemeingut. Erst mit der
Überwindung der Hungerwinter und der materiellen Krisen
(durch massive amerikanische Hilfe) und letztlich mit
dem Ende der Besatzung 1955
und der Neutralität kam der
Glaube an die österreichische
Eigenständigkeit knapp an die
Mehrheitsmeinung heran, um
dann ab den Sechzigerjahren
dominant zu werden (siehe
Grafik). Der Staatsvertrag und
die daran geknüpfte Neutralität bedeuteten übrigens eine
klare Abkoppelung von der
"deutschen Schicksalsgemeinschaft", was in den Jahren danach zu einer deutschnationalen Aufwallung in der
akademischen Intelligenz
führte. Die Erklärung des "Tages der Fahne" vom 26. Oktober zum Nationalfeiertag im
Jahre 1965 hängt ursächlich
mit dem Fall des antisemitischen und NS-affinen Hochschulprofessors Borodajkewitsch zusammen, gegen den
zwar demonstriert wurde, der
aber Scharen von deutschnationalen Gegendemonstranten
auf die Beine brachte. Noch
einmal brach die Thematik
eruptiv auf: 1985 und folgende
mit der erfolgreichen Kandidatur Kurt Waldheims zum
Bundespräsidenten. Waldheim war sicher kein Nazi, sicher ein Patriot, aber er warb
im Wahlkampf mit einem für
einen österreichischen Bundespräsidenten katastrophalen Ausspruch: "Ich habe im
Krieg nichts anderes getan als
hunderttausende andere Österreicher, nämlich meine
Pflicht als Soldat erfüllt." Damit legitimierte er – sicher nur
unbewusst – den Dienst in der
Deutschen Wehrmacht und einen verbrecherischen Krieg.
Mit Staatsvertrag und Neutralität wurde Österreich souverän und erhielt außenpolitischen Spielraum. Mit dem EU-
Beitritt 1995 lösten sich die
letzten Hoffnungen oder
Ängste bezüglich einer Sonderbeziehung zu Deutschland
auf. Wir sind Teil eines großen
Klubs, nicht mehr der kleine
Bruder in einer Kleinfamilie.
Aber es gibt noch – und schon
wieder – offene Positionen:
Österreich ist zu seinem Schaden sehr schäbig mit seiner
vertriebenen Intelligenz umgegangen; und es hat, wohl
wieder zu seinem Schaden,
kein wirkliches Konzept mit
seinen Immigranten. (DER STANDARD, Print, 12.5.2005)