Oder so gefragt: Würde die Republik vielleicht heute besser dastehen, wenn der Staatsvertrag schon ein paar Jahre vor 1955 oder gar unmittelbar nach Kriegsende unterzeichnet worden wäre? - Lehren aus einem politischen Gedankenspiel.

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Die zehnjährige Besatzungszeit wurde von den damaligen österreichischen Politikern als historisches Unglück und als Unrecht beschrieben. Bis heute sprechen Historiker bei den zähen Verhandlungen über einen Staatsvertrag von verpassten Gelegenheiten. Aber würde die Republik Österreich heute besser dastehen, wenn etwa im Herbst 1949 (oder gar schon 1946) ein "Österreichvertrag" unterzeichnet worden wäre? War es wirklich ein Unglück, zehn Jahre unter Kuratel der Besatzungsmächte zu stehen?

Für die Alliierten gehörte Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg zur "Konkursmasse des Großdeutschen Reiches", wie es der Nestor der österreichischen Geschichtsforschung, Gerald Stourzh, einmal nannte. Sie "entnazifizierten" nicht nur in Deutschland sondern auch in der ehemaligen "Ostmark", weil sich viele Österreicher in Hitlers Eroberungs- und Vernichtungskrieg schuldig gemacht hatten.

Die oberste Zielsetzung der Amerikaner und Briten aber war die Herstellung einer demokratisch stabilen und wirtschaftlich lebensfähigen Republik. Vor allem die US-Präsenz erwies sich in dieser Hinsicht als Segen. Hilfsprogramme wie der Marshallplan deckten das Handels- und Zahlungsbilanzdefizit der späten 40er-Jahre. US-Lebensmittellieferungen ermöglichten vor allem in den Städten das sprichwörtliche Überleben. Ohne Druck der US-Besatzer hätte es Anfang der Fünfzigerjahre auch den ökonomisch so erfolgreichen "Raab-Kamitz-Kurs" nicht gegeben. Dank der Gelder und wirtschaftspolitischen "Nachhilfe" war Österreich 1955 in der Lage, die Last des 150 Millionen Dollar teuren "Rückkaufs" des "Deutschen Eigentums" von den Sowjets zu tragen. Erst das ermöglichte den Durchbruch zum Staatsvertrag in den Moskauer Verhandlungen im April 1955.

Der Schlüssel zur Stabilisierung des politischen Systems war für Amerikaner und Briten die große Koalition. Diplomaten wie William Mack, der politische Berater des britischen Hochkommissars, hatten bereits vor dem Krieg Dienst in Österreich getan. Sie kannten die damaligen tiefen Gräben und die bürgerkriegsähnlichen Zustände im Land. Die große Koalition bot die Gewähr, das explosive Lagerdenken und die Spaltungstendenzen zu überwinden.

Die Spitzenpolitiker von ÖVP und SPÖ wurden regelmäßig von den westlichen Hochkommissaren zum Rapport bestellt, um über die innenpolitischen Fortschritte zu berichten. Bei den geringsten Anzeichen von Spannungen in der Koalition wurden die Großkoalitionäre gemahnt, ihre Differenzen zu vergessen und die Zusammenarbeit über alle parteipolitische Prioritäten zu stellen.

Ein Bruch der Koalition, so die Angst der Westalliierten, hätte den heimischen und Sowjet-Kommunisten die Unterwanderung des Landes ermöglicht. Diese Gefahr galt nach dem versuchten Generalstreik der KPÖ im Herbst 1950 und der Ost-West-Spannungen im Koreakrieg (1950 bis 1953) als besonders groß.

Das Pentagon nützte diese Eiszeit im Kalten Krieg indes, um die geheime Wiederbewaffnung der österreichischen Westzonen zügig voranzutreiben. Dies verbesserte trotz des bedrohlichen internationalen Umfelds die inneren Sicherheit des Landes auf erstaunliche Weise. Die Regierung Raab wusste genau, wie wichtig das war, sah sich aber gezwungen, öffentlich auch die westlichen Besatzungsmächte an den Pranger zu stellen und so zu tun, als ob der wahre Segen ein rasches Ende der Besatzung wäre.

Wäre bis 1955 nicht der Kern der zukünftigen österreichischen Armee gestanden, dann hätten die US-Militärs mit Sicherheit wie schon 1948/49 die Unterzeichnung des Staatsvertrags zu verhindern versucht. In der neutralistischen und pazifistischen Stimmung des heutigen Österreich erinnert man sich nicht gerne an solche sicherheitspolitischen Überlegungen. Zumindest die verantwortlichen Politiker sollten sich dessen aber stets bewusst sein.

Das österreichische Lehrbeispiel ist auch für die heutige Welt relevant, vor allem für den Irak. Trotz aller markanten Unterschiede im geopolitischen Umfeld steht der Irak vor ähnlichen Problemen. Die Kritiker des US-geführten Kriegs fordern den raschen Abzug der ausländischen Truppen.

Die irakische Führungselite aber weiß ebenso gut wie die österreichische der frühen 50er-Jahren, dass ohne die geduldige Ausbildung heimischer Sicherheitskräfte die Bedrohung der Terroristen (damals Kommunisten) langfristig nicht eingedämmt werden kann.

Die US-Truppen werden sich erst zurückziehen, wenn die innere Sicherheit einigermaßen gewährleistet werden kann. Ist es letztlich auch ein Segen für die Iraker, dass die Amerikaner sicherheitspolitisch erneut einen langen Atem demonstrieren? (DER STANDARD, Printausgabe, 11.5.2005)