Gesetzt den Fall, Russland stellt formell einen Beitrittsantrag: Wie würde die Europäische Union darauf reagieren? Eine EU, die mit ihrer inneren Verfassung - im wörtlichen wie im übertragenen Sinn - hadert und sich über ihren äußeren Umfang - Stichwort Türkei - alles andere als klar ist.

Die Frage ist hinfällig, weil zwischen Moskau und Brüssel wenigstens darin volle Übereinstimmung herrscht, dass eine EU-Mitgliedschaft Russlands bis auf Weiteres keine realistische Option ist. Abwegig ist die Frage deshalb aber keineswegs. Denn im Gegensatz zur ziemlich schwammigen offiziellen EU-Politik des Kreml wird in Moskauer Thinktanks das erklärte Ziel eines EU-Beitritts - in welch ferner Zeit auch immer - als ernsthafte strategische Variante erörtert.

Hauptargument der Befürworter sind die gravierenden politischen und wirtschaftlichen Reformen, die auf eine solche Entscheidung folgen müssten. Und genau deshalb wird es diese Entscheidung auf absehbare Zeit auch nicht geben, wenngleich neuesten Umfragen zufolge eine deutliche Mehrheit der Russen dafür wäre. Denn die Zentralisierungstendenzen in Politik und Wirtschaft, die sich in letzter Zeit verstärken, weisen genau in die Gegenrichtung.

Das ändert nichts an der Tatsache einer strategischen Partnerschaft zwischen der EU und Russland, egal, ob sie als solche ausdrücklich gewünscht wird oder nicht. Der viel strapazierte Begriff hat in diesem Fall seine volle Berechtigung. Gerade die Jubiläumsfeiern zum Jahrestag des Kriegsendes und die Debatten um das problematische Geschichtsverständnis des offiziellen Russland machen klar, dass es keine Alternative zu einer solchen strategischen, also langfristig und nachhaltig angelegten Partnerschaft geben kann.

Die vertiefte Zusammenarbeit in den so genannten vier Räumen, die am Dienstag auf dem EU-Russland-Gipfel in Moskau im Prinzip besiegelt wurde, trägt diesem Faktum Rechnung. Es ist ein bewusst pragmatischer Zugang: Über ganz konkrete Kooperationsprojekte in den Bereichen äußere und innere Sicherheit, Wirtschaft sowie Forschung und Bildung soll nicht nur ein belastbares Netzwerk vielfältiger Bindungen geschaffen, sondern auch Vertrauen aufgebaut werden.

In der EU setzt man darauf, auf diese Weise auch den inneren Wandel in Russland hin zu mehr Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und wirtschaftlicher Liberalisierung zu fördern. Wobei "die EU" in diesem Zusammenhang noch mit einem großen Fragezeichen zu versehen ist. Denn Russland tut sich bisher recht schwer mit der institutionellen Struktur der Union und setzt stattdessen auf die bilaterale Schiene. Dabei stößt es durchaus auf Gegenliebe. Jüngstes Beispiel ist das große ^Wirtschaftsabkommen mit Deutschland. In diesem Fall wirkt die persönliche Freundschaft zwischen Kanzler Gerhard Schröder und Präsident Wladimir Putin noch zusätzlich verstärkend. Dass solche Sonderverhältnisse nicht die beste Basis für eine wirklich substanzielle Kooperation zwischen der EU als Ganzem und Russland bilden, liegt auf der Hand.

Denn genau auf diesem Weg versucht Putin wiederum die EU-Politik als solche zu beeinflussen. Das betrifft auch die Rolle der Union als Wertegemeinschaft und wirkt sich in wachsendem Schweigen von Spitzenvertretern der Union zu innerrussischen Problembereichen - Stichworte Medienfreiheit und Tschetschenien - aus.

Wie die Zusammenarbeit in der Praxis wirklich aussehen wird, hängt daher in hohem Maße von der Entwicklung der EU selbst ab. Mehr Vertiefung und größere Entscheidungsfähigkeit im Sinne der künftigen Verfassung - deren Annahme fraglich ist - werden Moskau zwangsläufig dazu bringen, mehr nach Brüssel als nach Berlin oder Paris zu schauen. Eine starke EU wird eher positive Veränderungen in Russland bewirken können - und dann auch nicht mehr "fürchten" müssen, dass Moskau irgendwann den Beitrittsantrag stellt. (DER STANDARD, Printausgabe, 11.5.2005)