Wie ist das Österreich-Bewusstsein entstanden? Wie kam es, dass es für eine geraume Zeit vom Deutsch-Nationalismus verdrängt wurde? Dazu zunächst ein Rückgriff auf die Geschichte vom späten Habsburgerreich bis zum Anschluss an Deutschland.

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In dem 1856–60 im Stil der Neo-Renaissance erbauten Palais Ferstel in der Wiener Innenstadt, Sitz des berühmten Café Central, befinden sich Statuen, die die Völker der Monarchie darstellen: Böhmen, Ungarn, Slowaken, Polen, Kroaten usw. Außerdem ein Paar, das in alpiner Gewandung den "Österreicher" und die "Österreicherin" darstellt.

"Genau diese ,Österreicher‘ und ebenso die Deutsch- Böhmen, Deutschmährer, Deutsch-Schlesier wurden von ihren tschechischen, slowenischen oder italienischen Nachbarn aber als ,Deutsche‘ benannt und nannten sich auch selbst so, um ihre Sprachordnung auszudrücken", schreibt der österreichische Historiker und Verfasser des Standardwerkes über die "Nation Österreich", Ernst Bruckmüller. Diese "Deutschen" oder eher Deutschsprachigen, sahen sich als die "staatstragende, ja als die eigentliche Staatsnation der ganzen Habsburgermonarchie" (Bruckmüller).

Kaiser Franz Joseph selbst verstand sich aber ausdrücklich als Kaiser aller Völker in seinem Reich, als übernationaler Herrscher – wenn auch sozusagen als von Gottes Gnaden eingesetzter Privatbesitzer. Die längste Zeit war auch vom "Haus Österreich" die Rede. Österreich und das Haus Habsburg waren eins.

Niederlage von 1848

Der erste Versuch, der übernationalen Dominanz der Habsburgerdynastie zu entkommen, war die Revolution von 1848. Die Studenten in Wien trugen schwarz-rot- goldene Kokarden und überall wehten schwarz-rot-goldene Fahnen.

Man wollte sich, notfalls unter Habsburg, mit den Ländern des "Deutschen Bundes" vereinen und die nichtdeutschen Länder der Monarchie als eine Art Kolonie behalten. Wenn sich Jörg Haider heute als BZÖ-Chef auf die "freisinnige Tradition von 1848" beruft, meint er genau das. Habsburg antwortete, indem es die Revolution von kroatischen Regimentern zusammenschießen ließ.

Trotzdem betrachteten sich die Deutsch-Österreicher weiter als Österreicher. Der Nationalitätenkampf während der restlichen 68 Regierungsjahre von Franz Joseph war ein Kampf um die Vorherrschaft des "Deutschen" innerhalb der Monarchie.

Gegen die Slawen, aber auch gegen die Ungarn und Italiener. Deutschnationale Studenten und ihre schlagenden Verbindungen waren die mehr oder minder intellektuelle Speerspitze dieser "alldeutschen" inneren Opposition (abgeschwächt oder gut verborgen, bis heute).

Die blaue Kornblume, angeblich die Lieblingsblume des deutschen Kaisers, wurde zum Symbol (und ist es bei den "Blauen" heute noch). Aber "deutsche Kultur", deutsches Geisteswesen waren in harmloser und weniger harmloser Form, auch Teil des Selbstverständnisses nicht- deutschnationaler Eliten. Karl Kraus und Sigmund Freud, beide aus Südmähren, betrachteten sich als Österreicher, aber als Teil einer großen deutschsprachigen Kultur.

Der Sozialdemokrat Karl Renner erging sich bereits 1910 in Schwärmereien: "Uns Deutschen aber bleibt einzig jene Richtung des Denkens und Wollens, die man den deutschen Idealismus genannt hat."

Die Monarchie ging letztlich an diesem internen Kampf um die Vorherrschaft zugrunde. "Den Deutsch-Österreichern kam ihr Österreich, das Österreich der Habsburger, abhanden" (Bruckmüller).

1916 fiel mit dem Tod von Franz Joseph das letzte einigende Symbol weg, das Reich löste sich 1918 in der fürchterlichen Niederlage auf, die Deutsch-Österreicher wandten sich vom Österreichertum ab und suchten das Heil im Anschluss an Deutschland.

Der neu ausgerufene Staat "Deutsch-Österreich" postulierte gleich im zweiten Absatz seines Gründungsdokuments: "Deutsch- Österreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik." Das verhinderten die Sieger. Aber die ganze Erste Republik dominierte ein "deutsches" Selbstverständnis. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 11.5.2005)