Der Politologe und Medienforscher Peter Diem im Interview über die Staatssymbole und Mythen Österreichs. Der bereits ausgehöhlte Mythos Neutralität solle durch das Staatsziel einer aktiven Friedenspolitik ersetzt werden. Das Gespräch führte Hans Rauscher.

STANDARD: Sie haben in ihrem Standardwerk "Die Symbole Österreichs" von 1995 bemerkt, dass die österreichischen Staatssymbole historisch einen defensiv-bewahrenden Charakter haben.

Diem: Insbesondere in der ersten Republik, aber auch schon früher sind wir ja nirgends mehr vorgestoßen, sondern haben uns wehren müssen. Besonders das Kruckenkreuz war ja gegenüber dem dynamischen, aggressiven Hakenkreuz ein rückwärts gerichtetes Kreuzfahrersymbol. In Wirklichkeit ist auch der Doppeladler ursprünglich ein Schutzsymbol, es war die Kaiserhymne ein reines Gebetslied - "Gott erhalte unsern Kaiser Franz" -, während die Marseillaise, unter der die Franzosen antraten, ein aggressives Kampflied war.

STANDARD: Und heute?

Diem: Die Symbole der Zweiten Republik sind durchaus in Ordnung, weder aggressiv, noch defensiv. Sie kommen eben aus einer langen Tradition. Allerdings gibt es schwere Fehler, es gibt etwa zwei Darstellungen des Bundeswappens, eine grau und schwach in der Farbgebung, eine schwarz und stark. Das wäre in keinem anderen Staat möglich, hängt aber damit zusammen, dass es zwei Fahnenfabriken gibt, eine in West- und eine in Ostösterreich.

STANDARD: Aber die Fahne ist es ja nicht allein.

Diem: Ja, heute muss ein Staat im Internet präsent sein und deshalb ist eine der größten Sünden dieser Regierung im Jahre 2005 die Einstellung des Österreichlexikons AEIOU. So was zu verantworten, ohne dass ein Blitz herunterfährt auf diese Regierung ...

STANDARD: Gibt's Symbole, die für junge Leute etwas bedeuten? Vor allem für junge Leute?

Diem: Das bringt die Frage auf, was konstituiert Identität, welche Elemente machen Identität aus? Da ist einmal die Sprache. Das österreichische Deutsch ist ein Symbol für Österreich. Der berühmte Satz, dass Österreich durch die gemeinsame Sprache von Deutschland getrennt ist, besagt das ja auch. Zur Sprache gehören auch die Lieder, es ist keine Frage, dass die Nation sich auch in ihren Liedern wiederfindet. Wenn Sie über Flandern ein Lied hören, wo der Wind übers flache Land bläst, oder wenn Sie hören "In die Berg bin i gern", dann haben Sie Identität. Die Landschaft ist ganz etwas wichtiges, vom Bodensee bis zum Neusiedler See - wenn man Umfragen anschaut, was konstatiert die österreichische Identität, hat man immer die Landschaft, die Architektur, und dann sind da noch gewisse Mythen, oder Quasi-Mythen, die wir haben. Angefangen bei der Pummerin, beim Donauwalzer, beim Belvedere und bei der Uno-City, und das geht dann weiter in die Geschichte hinunter. Die Kultur ist sicherlich auch ein Symbol, die Musik, das Neujahrskonzert - ganz wichtig aber ist der Sport. Sport ist eine der entscheidenden Identitätsfindungsmechanismen, besonders bei der Jugend. Also, wenn ich den Krankl hier zitiere, der wie auch Andreas Khol bei der Bundeshymne die Hand aufs Herz legt, nach amerikanischem Muster, dann weiß man, dass sich der was denkt dabei. Die Jugend, glaub ich, zeigt gerade in den Stadien und bei den Skisprungschanzen durch ihre korrekten Bundesflaggen, dass sie eigentlich im Sport die wahre Identität des Landes sieht.

STANDARD: Wie steht es aber mit dem Hurrapatriotismus gerade beim Sport?

Diem: Was ich den "unaufgeregten" Patriotismus, oder den OK-Patriotismus nennen würde, der ist heute ungefähr bei 95 Prozent dessen, was es sein sollte. Aber da wir noch nicht drei Generationen hinter uns haben - die 100 Jahre sind noch nicht voll - brauchen wir wahrscheinlich eine vierte Generation.

STANDARD: Aber für die Landschaft können wir ja eigentlich nichts?

Diem: Nein, aber wir haben sie ja, und wir bewohnen sie. Wir haben den einzigen Steppensee Europas, wir haben den Großglockner, wir haben Dinge, die andere eben nicht haben. Die Westalpen sind natürlich spektakulärer, mit dem Mont Blanc usw., aber de facto ist eben die Lieblichkeit der österreichischen Landschaft - ob das die Wachau ist oder der Lungau - etwas, was wir haben, und die konstituieren auch unsere Identität.

Ich möchte nur noch darauf hinweisen, dass man so Dinge wie Neujahrskonzert, große Erfinder, Küche und Keller - also der Veltliner und das Schnitzel - und die Popmusik, auch nicht vergessen darf . . . Der Fendrich, der also "I am from Austria" gesungen hat, der ist auch da zu zitieren, und schließlich und endlich die soziale Sicherheit, die wir haben. Das sind die Dinge, die meiner Meinung nach die wirklichen Symbole sind. Die Staatssymbole sind nur Ausdruck dieser sozusagen realen Symbole. Und diese Mythen sind wichtig, weil sie sozusagen im kollektiven Unbewussten wirken.

STANDARD: Wenn wir von Mythen reden, dann haben wir die Neutralität, einen Nationalfeiertag, der sich darauf gründet, während doch die Substanz schon ausgehöhlt ist.

Diem: Die Neutralität ist ein Mythos geworden, der umgewandelt gehört in eine aktive Friedenspolitik. Es ist so, dass man den Österreichern das Neutralitätstheorem nicht nehmen darf, weil es tief verwurzelt ist. Wenn man aber auf die realpolitische Aushöhlung dieses Prinzips Rücksicht nehmen muss, dann muss man an die Stelle dieses ausgehöhlten Prinzips ein anderes setzen. Es gehörte meines Erachtens in die Verfassung die Bekenntnis zu einer aktiven Friedenspolitik, die die Neutralität ersetzen müsste - ein Staatsziel statt der Neutralität, die ja halb gewollt und halb aufgezwungen ist, aber sie ist akzeptiert, und in der Bevölkerung hat sie sozusagen die Funktion des Doppeladlers übernommen. Der Doppeladler war das Schutzsymbol, unter dessen weit ausladende Schwingen man sich flüchten konnte. Und dieses Schutzsymbol - der Blick auch in beide Richtungen - ist mittlerweile die Neutralität geworden, und ein solches Schutzsymbol darf man den Leuten nicht nehmen, ohne ihnen ein anderes zu geben. Und das hat man bis jetzt noch nicht durchgedacht.

STANDARD: Wie sieht es mit unserer europäischen Identität aus?

Diem: Staat, Nation, Land sind akzeptiert, was nicht so richtig akzeptiert ist, ist Europa. Ich habe erwähnt, dass wir noch nicht 100 Jahre an der österreichischen Identität arbeiten. Wir arbeiten seit 1995 de facto an der europäischen Identität, und das braucht einfach drei Generationen ...

STANDARD: Noch einmal zu den Symbolen wie der Stephansdom und die Pummerin oder das Kraftwerk Kaprun, damit kann man relativ wenig jüngere Menschen hinter dem Ofen hervorlocken ...

Diem: Ich hab selbst einen 21-jährigen Sohn und ich weiß, was der alles nicht weiß, und den hab ich gefragt, wie soll man das 2005 alles feiern. Und der meinte, wenn man nicht auf die Straßen geht und wenn man keine Popmusik einsetzt, dann ist gar nichts. Und das hat man irgendwie doch versäumt. Es muss eine Aktion sein, sonst ist gar nichts...

(DER STANDARD, Printausgabe, 10.5.2005)