Sergej Mironow: "Russland braucht sich vor überhaupt nichts zu fürchten."

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Geschichte als folkloristisch angehauchte Show und ein scheinbar unverkrampfter Umgang mit belasteten Symbolen: Mitglieder eines militärhistorischen Klubs in Uniformen der Roten Armee warten auf ihren Auftritt bei den Moskauer Feiern zum 60. Jahrestag des Sieges über Hitlerdeutschland.

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Russland habe den Stalinismus "ein für alle Mal verurteilt" und werde sich nicht immer wieder "Asche aufs Haupt streuen", sagt Sergej Mironow, Vorsitzender des Föderationsrates, im Gespräch mit Josef Kirchengast zu Kritik anlässlich der Moskauer Siegesfeiern.

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STANDARD: Polens Außenminister Adam Rotfeld sagt: "Es wäre bedeutend leichter, mit den Russen den Sieg über den Hitlerismus zu feiern, wenn wir Worte der Verurteilung und entschiedenen Distanzierung von allem hörten, was der Stalinismus bedeutete." Warum fällt es dem heutigen Russland, das sich ja als Demokratie darstellt, so schwer, offen und endgültig mit dem Stalinismus abzurechnen?
Mironow: Es gab einen Kongress der Völker der Sowjetunion, der ganz eindeutig alle Handlungen verurteilte, die mit Stalinismus verbunden waren. Es waren ja Verbrechen sowohl gegen das Volk Russlands als auch gegen andere Völker. Und damit wurde eigentlich der Schlusspunkt unter dieses Kapitel gesetzt. Wir haben den Stalinismus ein für alle Mal verurteilt. Es ist nicht unsere Aufgabe, uns immer aufs Neue Asche aufs Haupt zu streuen. All diese Appelle an Russland werden ohne Antwort bleiben - aus dem einfachen Grund: Die Antwort wurde schon gegeben. Wer hören will, der höre.

STANDARD: Kritik gibt es auch in Russland selbst. Alexander Jakowlew etwa, einer der Architekten der Perestroika unter Michail Gorbatschow, fordert, nicht nur Stalin, sondern auch Lenin posthum den Prozess zu machen, weil der Leninismus dem Stalinismus den Weg geebnet habe und selbst schon ein verbrecherisches Regime gewesen sei.
Mironow: Würde Russland die Ideologie des Leninismus predigen, hätten wir als Ziel den Aufbau des Kommunismus, würden wir diese Auffassungen anderen Ländern mit Gewalt aufzwingen, würden wir die Wiederherstellung des Sowjetimperiums anstreben, dann wäre so etwas nicht fehl am Platze. Aber Russland hat die Krankheit des Kommunismus endgültig überwunden.

STANDARD: Präsident Wladimir Putin hat in seiner jüngsten Rede zur Lage der Nation den Zusammenbruch der Sowjetunion "die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" genannt. Klingt das nicht so, als sehnte man sich zurück nach dem großen sowjetischen Reich, und muss das nicht bei den Nachbarn neue Ängste wecken?
Mironow: Zunächst einmal gibt es keine Absicht, so etwas wie die Sowjetunion wiederherzustellen. Putin sprach ja vor allem vom Standpunkt des heutigen Bürgers Russlands aus. Damals sind 20 Millionen Russen zu Bürgern anderer Staaten geworden. Da gibt es zum Beispiel dieses furchtbare Problem in den baltischen Staaten, wo hunderttausende unserer Mitbürger keine Staatsbürgerschaft haben und es ihnen sogar verboten ist, an den Kommunalwahlen teilzunehmen. Das ist in der Tat eine Katastrophe für den Bürger Russlands. Aber ich betone noch einmal, dass Russland die Ideologie des Kommunismus endgültig überwunden hat. Ich glaube, wir haben dadurch der ganzen Welt eine sehr wirksame Impfung verabreicht.

STANDARD: Mit Blick auf die Umbrüche in Georgien, der Ukraine und zuletzt in Kirgistan kursiert in gewissen Kreisen in Moskau die Theorie, der Westen unter Führung der USA wolle Russland einkreisen und in seinen geopolitischen Interessensphären beschneiden. Hat Russland von demokratischen Nachbarstaaten wirklich etwas zu befürchten?
Mironow: Russland braucht sich vor überhaupt nichts zu fürchten. Wir streben gute und pragmatische Beziehungen zu allen Nachbarländern an. Was in den erwähnten Staaten geschehen ist, waren mehrheitlich interne Prozesse. Es wäre ein Fehler, alle diese Ereignisse auf irgendwelche Szenarios oder Einflüsse von außen zu reduzieren. Im Wesentlichen war es der Wunsch dieser Völker, die korrumpierte und verfaulte Macht zu ersetzen.

STANDARD: Wenn Präsident Putin 2008 seine zweite und laut Verfassung letzte Amtszeit beendet, ist er 55. Kaum jemand kann sich vorstellen, dass seine politische Karriere dann vorbei ist. Sie selbst haben ja drei mögliche Ämter für Putin genannt: Ministerpräsident oder Vorsitzender einer der beiden Kammern des Parlaments.
Mironow: Es gibt noch eine vierte Option. Putin wäre in der Tat interessiert, auf die Politik zu verzichten. Vielleicht will er in die große Wirtschaft einsteigen, etwa Gazprom oder RAO EES (Russlands größte Energiekonzerne, Red). Jedenfalls hat er das Recht der Wahl, was seine Zukunft betrifft. Aber dass die Verfassung geändert wird (um eine dritte Amtsperiode zu ermöglichen, Red.), schließe ich aus. Putin ist überzeugter Demokrat.

STANDARD: Sie selbst haben ja bei den Präsidentschaftswahlen 2004 auch kandidiert, obwohl Sie zur Wahl Putins aufriefen. Jetzt werden Sie als möglicher Nachfolgekandidat genannt. Treten Sie 2008 erneut an?
Mironow: Ich möchte mich auch künftig auf die parlamentarische Tätigkeit konzentrieren. Aber ich würde niemals etwas mit Gewissheit vorhersagen.

STANDARD: Sind die von Putin initiierten Reformen schon auf so gutem Weg, dass es egal ist, wer sein Nachfolger wird? Mironow: Bedauerlicherweise nicht. Russland ist ja ein ganz besonderes Land, und daher wird auch in den nächsten Jahren viel davon abhängen, welche Persönlichkeit an der Spitze des Staates steht. Der Mann, den Putin als seinen würdigen Nachfolgekandidaten vorstellt, wird die größten Wahlchancen haben. Der beliebteste und einflussreichste Politiker Russlands wird ohnehin Putin selbst bleiben. (DER STANDARD, Printausgabe, 9.5.2005)