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Sowjetische Kurzstrecken- raketen, die mit atomaren Sprengköpfen in Ungarn stationiert waren - zum Einsatz in Österreich.

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Manöverannahmen der ungarischen Armee für Einsatz von taktischen Atomwaffen in der Steiermark (nach Originalkarte).

Grafik: STANDARD

STANDARD: In Ihrer Serie sind Sie auch auf Hinweise gestoßen, dass die Truppen des Warschauer Paktes bei einem Krieg in Österreich nicht nur die Neutralität gebrochen, sondern auch Atomwaffen eingesetzt hätten.

Portisch: Ich habe die Aussagen des damaligen stellvertretenden Generalstabschefs des Warschauer Pakts, eines Ungarn, und eines Generals im sowjetischen Planungsstabs (siehe Kasten: "Nicht gegen Wien", Anm.). Es betrifft die Jahre nach der Neutralität. Wir stellen in unserer Folge 4 die Frage, was wäre gewesen, wenn der Kalte Krieg heiß geworden wäre? Immerhin ist das eine Strecke von 20 Jahren, in denen uns die Neutralität vermutlich – vermutlich! – wenig geholfen hätte.

STANDARD: Die Planungen des Warschauer Paktes gingen ja pro forma von einem Angriff der Nato aus, die man mit einem Gegenstoß beantworten müsse. Der wäre in Österreich im Wesentlichen durch das Donautal erfolgt.

Portisch: Der russische General sagt, wenn die österreichische Neutralität gebrochen worden wäre, da hätten wir leider eingreifen müssen. Da geht auch der sowjetische Generaloberst einen bedeutenden Schritt weiter als der Ungar, indem er sagt, ja, wir haben vorausgesetzt, dass die Nato die Neutralität sowieso nicht respektiert. Umgekehrt sagen ehemalige Nato-Generäle, wie Schmückle, der höchstrangige deutsche Nato-General, na ja, wenn die Österreicher uns zu Hilfe gerufen hätten, wir hätten schon gewusst, was wir zu tun hätten.

STANDARD: Aber warum Atomwaffen?

Portisch: Beide sagen, der Ungar und der Russe, selbstverständlich hätten wir atomare Waffen eingesetzt, vom Fleck weg, weil das war immer vorgesehen. Die haben sich darauf bezogen, dass auch die Nato Nuklearwaffen eingesetzt hätte, weil gegen 50.000 Panzer kannst du nur atomar vorgehen. Und daher hat die Nato immer gesagt, wir behalten uns den nuklearen Erstschlag vor. Als Abschreckung natürlich, und das hat ja auch gewirkt, weil der Krieg hat ja nie stattgefunden. Aber der Russe sagt, alle militärischen Ziele in Österreich waren atomar angepeilt, mit Ausnahme von Wien. Nein, dieses kulturelle Zentrum in Europa, das darf nicht zerstört werden, wir wollen nicht einen strahlenden Trümmerhaufen vorfinden in Wien. Und dann hat er uns mit den Augen zugezwinkert und hat gesagt, natürlich ist Wien auch in unmittelbarer Nähe der ungarischen Grenze und der eigenen Truppen.

STANDARD: Wie haben sich die Österreicher verhalten?

Portisch: Die haben sich zuerst gedacht, wie machen wir das, mit den schwachen Kräften, die wir haben. Es gab dann den Plan von General Spannocchi, uns nur punktuell zu verteidigen, auf den Bergeshöhen, und dann werden wir sehen, wie es weitergeht. Das war natürlich die Frage: Kommt die Nato, oder kommt sie nicht? Und da waren auch verschiedene Überlegungen im Bundesheer. Es gab eine Zeit, wo man fest damit gerechnet hat, die Nato kommt zu Hilfe, in einer gewissen Zeit. Dann sind sie davon weggegangen, weil das natürlich nicht geheim gehalten worden ist, wir waren ja durchsetzt mit Spionen. Und in der Regierung Kreisky, glaub ich, war es dann schon so, dass der gesagt hat, bitte macht's nicht solche Spiele, tut's nicht so was überlegen, wir müssen unsere Neutralität glaubhaft machen.

STANDARD: Das war dann schon in den Siebzigerjahren. Aber es gab doch Überlegungen, ob wir die Nato zu Hilfe rufen oder nicht.

Portisch: Die Österreicher haben gewusst, die Nato käme sofort zu Hilfe – aber wie? Der sowjetische Hauptstoß wäre im Donautal erfolgt, in Passau und München. Und das Donautal allein war auch geeignet, um diese Masse an Panzern durchschleusen zu lassen.

Die erste Aufgabe der Nato wäre gewesen, diese Panzer zu vernichten. Wie macht man das? Nuklear! Nuklear hätten schon die Sowjets gehandelt, und nuklear hätte dann auch die Nato gehandelt. Wirklich getroffen hätte es die Zivilbevölkerung. Wir haben aber auch eine andere Möglichkeit immer im Auge gehabt: Was machen wir, wenn die Sowjets kommen und sagen, ihr müsst sofort kapitulieren, oder wir machen Linz dem Erdboden gleich ? Also die Erpressung war möglich. Das hat auch den Schweizern große Sorgen gemacht. Deshalb war es so ein Glück, dass es durch die atomare Abschreckung nie zu einem Krieg gekommen ist.

STANDARD: Hätte Österreich gekämpft? Hätten wir erbitterten Widerstand geleistet?

Portisch: Das ist die Frage . . . mein Gesamteindruck ist, beim Militär hat man die Lehre aus 1938 gezogen und hat gesagt, auf jeden Fall schießen! Wenn wir 1938 geschossen hätten und es hätte 50 Tote gegeben, dann wären wir nach dem Krieg anders dagestanden. Beim Militär sagte man, wir dürfen nicht sang-und klanglos untergehen.

STANDARD: Also geschützt hätte uns die Neutralität nicht. Sie hat uns politisch geholfen . . .

Portisch: . . . politisch hat sie uns sehr geholfen! Und sie war identitätsstiftend, das ist, glaub ich, ihre Hauptfunktion. In den 60er-Jahren gab es die Diskussion, sind wir Deutsche oder nicht? Gibt's die österreichische Nation? Aber dann kam zunehmend die Identifizierung – wir sind was anderes. Weil die waren bei der Nato, und wir sind anders.

Wir haben immer ein bisschen einen Minderwertigkeitskomplex gehabt, und den haben wir mit der Neutralität überwunden.

STANDARD: Was bedeutet Neutralität heute?

Portisch: Mit dem Beitritt zur EU und den Unterschriften unter die verschiedenen Verträge – Amsterdam, Nizza, alle möglichen Verträge – haben wir uns zum Prinzip der Solidarität bekannt.

In der Bevölkerung ist aber sicher noch die Überzeugung dominierend, dass Neutralität bedeutet, lasst's uns in Ruh, und wir lassen alle anderen in Ruhe.

STANDARD: Und die Politik orientiert sich danach.

Portisch: Nur, es ist die Aufgabe der Politik, meiner Ansicht nach, Ziele, die das Land, um seine eigene Sicherheit und um sei- ne eigenen Interessen zu bewahren, ansteuern muss, zu vermitteln. Ich hab den Außenminister Genscher einmal gefragt, ob er Meinungsumfragen bekommen hat, und er sagte: täglich, und oft waren sie gegen uns – da wussten wir, wir müssen hinausgehen und die Öffentlichkeit davon überzeugen, dass das, was wir wollen, richtig ist.

Ich glaube, das ist halt das Wesentliche an so einer Politik: dass man die Ziele genau kennt, dass man sich ganz genau im Klaren sein muss, was ist unsere Position im Verhältnis zu der Sicherheitspolitik und Außenpolitik der EU. Und dann muss man bitte auch sagen, das erfordert die Bereitschaft, das und das zu tun.

"Nicht gegen Wien"

In der Portisch-Serie werden zwei Kronzeugen zitiert: "Wir hielten es für notwendig, ganz von Anfang des Krieges an unser Nuklearpotenzial für die Lösung strategischer Aufgaben im vollen Umfang auszunutzen. Auch in Österreich sind die wichtigsten Militärobjekte als Kernwaffenziele betrachtet worden. Aber in allen Plänen war Wien, Österreichs Kulturzentrum, nicht als Ziel betrachtet worden" (Generaloberst a.D. Andrian Danilewitsch, damals Planungsstab der Sowjetarmee).

"Die ungarische Volksarmee verfügte nicht über Atomwaffen. Im Falle eines Atomkrieges wären aber natürlich die in Ungarn gelagerten (sowjetischen, Anm.) Atomwaffen zum Einsatz gekommen, auch in Österreich, gegen Militäreinrichtungen, aber das schließt nicht aus, dass etwas anderes in Mitleidenschaft gezogen worden wäre" (Generalmajor Dr. Rudolf Széles, damals Ungarische Volksarmee). (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 7./8. 5. 2005)