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Selbst ein Genie wird nicht als Gipsbüste geboren. Weshalb jene gutbürgerlich-christlich und vielleicht ein wenig (oder auch ein wenig mehr) national gesinnten Eltern, die ihrem Nachwuchs jahrzehntelang aus Schillers Balladen zitierten, sich den wilden Schwaben selbst wohl kaum zum Kind gewünscht hätten.

Den grandios unbegabten jungen Arzt, der seine Patienten mit so herben Rosskuren malträtierte, dass seine Vorgesetzten heimlich die Rezepte korrigierten, um gröberes Unheil zu verhindern. Den Dichter eines Verbrecherdramas von zweifelhafter Moral, der seinen Medizinerberuf hinschmiss, heimlich über die Grenze floh und sich im Ausland mit dem Geld anderer von Unterkunft zu Unterkunft hangelte. - Wo er morgens durchaus exzentrisch im Schlafrock durch die Wiesen spazierte, einen Diener mit Wasserkrug im Schlepptau. Und sich, von Freunden zum Essen eingeladen, wie so oft vom Überschwang der Begeisterung hinreißen ließ, alle Gläser (IKEA-Billigware war noch nicht erfunden) zum Zeichen der Freundschaft über die Mauer zu pfeffern, wo sie "sämtlich in Stücke sprangen", wie Minna Körner, die Gastgeberin, nicht ohne einen Anflug von Wehmut bemerkt.

Später entstand aus solchen Splittern die "Ode an die Freude". Vor allem aber wäre es der Autor Schiller gewesen, dessen Werke die braven Verehrer der Weimarer Klassik sicher im Giftschrank verschlossen hätten - hätten sie sie denn gelesen. Die Sendung Moses etwa, jene Vorlesung, die der (im dritten Anlauf) promovierte Mediziner als Geschichtsprofessor an der Universität Jena hielt - ein Text, in dem er den Monotheismus historisch als Erfindung ägyptischer Priester begründet. Als Geheimlehre also, die Moses aus politischen Zwecken abwandelte: Er erfand dem ursprünglich unpersönlichen Gott ("Ich bin, was da ist", nicht unähnlich Spinozas "Deus sive natura") konkrete Eigenschaften dazu, "die ihn den schwachen Köpfen faßlich und empfehlungswürdig machen". Gottvater - und später sein Sohn - eine geschickte Erfindung für "schwache Köpfe", die religiöse Radikalität des Freigeistes Schiller dürfte noch heute für Diskussionsstoff sorgen.

Hat ein Jubiläum wie der 200. Todestag am 9. Mai des so gar nicht national gesonnenen "Nationaldichters" mancher Deutschen - "Es ist ein armseliges kleinbürgerliches Ideal, für e i n e Nation zu schreiben; einem philosophischen Geist ist diese Grenze durchaus unerträglich. Dieser kann bei einer so wandelbaren, zufälligen und willkürlichen Form der Menschheit, bei einem Fragment (und was ist die wichtigste Nation anders?) nicht stille stehen", so Schiller im Brief an seinen Freund Körner 1789 - hat ein solches Jubiläum und die damit einhergehende Publikationsflut einen Sinn, dann wohl diesen, die dunklen Abgründe unter der glatt polierten, weißen Gipsschicht hervorzuklopfen. Gerade bei der Lichtgestalt Schiller sind hier erstaunliche Funde zu machen.

Etwa sein Geisterseher-Roman - mit dem er nebenbei das Genre des Fortsetzungsromans begründete - und den er nie beendete. Ein unübersichtliches Labyrinth sinistrer okkulter Machenschaften in den Palästen Venedigs, in dem sich die Spuren von Geheimbünden, sizilianischen Magiern und undurchdringlichen Armeniern finster kreuzen. Oder die Wallenstein-Trilogie, für die Schiller alle dramatischen Regeln, die er für andere ästhetisch festgeschrieben hatte, souverän ignorierte, um neben dem Fortsetzungsroman auch das maßlose Fortsetzungsdrama zu erfinden (siehe Artikel rechts).

Es ist nicht der geringste Vorteil einer Biografie wie Rüdiger Safranskis Friedrich Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus, neben einem manchmal ermüdenden Reader's Digest europäischer Philosophie-Geschichte des 18. Jahrhunderts den Blick ausführlichst auf die unbekannten Aspekte in Schillers Werk gerichtet zu haben. Der Rest heißt: selber lesen. Wozu die 10-bändige Werkausgabe des Aufbau-Verlages, die pünktlich zum Jubiläum erscheint, einiges Material liefert. (ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 07./08.05.2005)