Berlin - Im Vorfeld der Reise von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) in die Türkei hat der außenpolitische Experte der SPD, Gernot Erler, das Reformtempo des Landes kritisiert. "Es gibt eine gewisse Ernüchterung über die mangelnde Umsetzung des Reformprozesses", sagte Erler der "Passauer Neuen Presse" laut einem Vorabbericht aus der Dienstagsausgabe.

Aus der Türkei seien zuletzt überwiegend "enttäuschende und empörende Nachrichten" gekommen, die die Verhandlungen über einen Beitritt zur Europäischen Union (EU) nicht förderten, sagte er weiter. Vor allem im Bereich der Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit würden Zusagen plötzlich nicht mehr eingehalten und in Frage gestellt. Vom Kanzler erwarte er daher "ein paar deutliche und mahnende Worte", sagte Erler. "Wir müssen deutlich machen, dass der Verhandlungsprozess auch scheitern kann."

Roth für deutliches Signal für EU-Beitritt der Türkei

Nach Ansicht der Vorsitzenden der Grünen, Claudia Roth, muss von Schröders Türkeireise ein deutliches Signal für einen Beitritt des Landes zur Europäischen Union ausgehen. Damit die Reformdynamik in der Türkei unterstützt werde, sei eine glaubwürdige EU-Perspektive nötig, sagte Roth am Dienstag im Deutschlandfunk.

Bei der Umsetzung der Reformen in der Türkei hätte man sich einiges schneller wünschen können, sagte Roth. Es gebe Defizite bei der Reform des Justizwesens, der Pressefreiheit, den Rechte der religiösen Minderheiten und in der Kurdenfrage. Roth wünschte sich auch eine Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den Armeniern.

Schröder reist am Dienstag für einen zweitägigen Besuch in die Türkei und wird dabei Gespräche mit dem türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan und Präsident Ahmet Sezer. Bei seinen Gesprächen in Ankara wird Schröder nach Angaben von Regierungsvertretern das Ziel des türkischen EU-Beitritts zwar bekräftigen, aber auch auf die notwendigen Reformen drängen. Nachdem der Kurs von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan im vergangenen Jahr gelobt wurde, mehrten sich in den vergangenen Wochen die kritischen Stimmen. EU-Diplomaten nannten insbesondere das außerordentlich brutale Vorgehen der türkischen Polizei gegen eine Demonstration für Frauenrechte und fehlende Religionsfreiheit.

Die EU drängt die Türkei, ihr Reformtempo zu erhöhen, um bis zum geplanten Beginn der Beitrittsgespräche im Oktober deutliche Fortschritte bei Menschenrechten und Religionsfreiheit zu erzielen. Ein EU-Beitritt des Landes soll das Signal an die islamische Welt senden, dass Islam und westliche Werte vereinbar sind, und so zur Stabilität in der türkischen Nachbarregion Nahost beitragen.

Zentrum für Türkeistudien: EU-Begeisterung der Türken lässt nach

Die Begeisterung der Türken für die Europäische Union hat nach Angaben des Direktors des Zentrums für Türkei-Studien an der Universität Duisburg-Essen, Faruk Sen, nachgelassen. Sen erklärte am Montag in Essen, viele Türken seien ernüchtert, weil sich der Weg in die EU als politischer Kraftakt herausgestellt habe. "Viele in der Türkei fragen sich nun, ob sich der beschwerliche Weg lohnt."

Sen hofft, dass der Besuch des deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder in der Türkei neue "Impulse" bei der Annäherung des Landes an die EU setzen werde. Er verwies auf Meinungsumfragen in der Türkei, nach denen nur noch knapp 60 Prozent der Türken den Weg ihres Landes nach Europa begrüßten. Kurz nach der Entscheidung über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen im Dezember waren es noch 80 Prozent gewesen. (APA/Reuters/dpa)