Stärkung von Demokratie und Rechtsstaat, Aufbau einer Zivilgesellschaft, Medienfreiheit, Rechtssicherheit für Unternehmer: All das hat Wladimir Putin seit seiner ersten Wahl zum russischen Präsidenten immer wieder in Abwandlungen als Hauptaufgaben für das Land genannt. In der Praxis sei unter seiner Regentschaft auf das Gegenteil hingearbeitet worden, meinen die meisten Beobachter.

Daher schlägt auch Putins jüngster Rede zur Lage der Nation große Skepsis entgegen. Und nach wie vor gibt es nur zwei Deutungsmöglichkeiten für die Kluft zwischen Worten und Taten: Entweder Putin meint nicht, was er sagt, oder er kann sich gegenüber den beharrenden Kräften im russischen Machtapparat nicht durchsetzen.

In einem aber ist Putins Glaubwürdigkeit auch bei seinen schärfsten Kritikern unbestritten: Wenn er, wie am Montag, den Zusammenbruch der Sowjetunion "die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts" nennt.

In dieser enthüllenden Formulierung (in der offiziellen englischen Version wurde sie übrigens auf "a major geopolitical desaster of the century" abgeschwächt) spiegelt sich das ganze Trauma einer Generation wider, die noch mit der Sowjetideologie groß geworden und offenbar unfähig ist, das Ende eines unmenschlichen Systems als Chance eines Neubeginns für Russland zu begreifen.

Umso bemerkenswerter muss erscheinen, dass am Tag der Rede Putins der russische Außenminister Sergej Lawrow gegenüber Georgien angedeutet hat, man sei zu einem baldigen Truppenabzug aus der einstigen Sowjetrepublik bereit. Sollte es tatsächlich dazu kommen, dann könnte das bedeuten, dass Moskau aus seinem ukrainischen Debakel doch etwas gelernt hat. In diesem Fall müsste man sich über die Diskrepanz zwischen Putins Worten und Russlands Taten geradezu freuen. Was nichts daran ändert, dass die widersprüchlichen Signale aus Moskau in jüngster Zeit eher zu- als abnehmen. (DER STANDARD, Printausgabe, 27.4.2005)