Von Montag bis Freitag täglich eine Stadtgeschichte von Thomas Rottenberg

Auch als Buch: Die besten Stadtgeschichten aus dem Stadtgeschichten - Archiv - zum Wiederlesen & Weiterschenken. "Wiener Stadtgeschichten" mit Illustrationen von Andrea Satrapa-Binder, Echomedia Verlag Ges.m.b.H., ISBN 3-901761-29-2, 14,90 Euro.

Echo-Verlag
Es war immer schon. Jedenfalls kann sich kaum jemand an die Zeit davor erinnern: Seethaler dürfte eine zeitlose Stadtkonstante sein. Seethaler war. Seethaler ist. Und Seethaler wird sein – zumindest so lange es in Wien irgendeine Fläche gibt, an der sich Zettel befestigen lassen. Seethalerzettel eben.

Zu erklären, was auf Seethalerzetteln steht, ist müßig. Schließlich kennt die jeder. Weil sie jeder kennt, schaut sie keiner an. Hängen irgendwo Seetahlerzettel, nickt man erkennend – und geht weiter. Meistens. Und irgendwann ist man dann dort, wo wir uns neulich fanden: Im Grunde weiß kein Mensch, was auf Seetahlerzetteln steht.

Zettelgedichte

Klar: Seethaler ist der Zetteldichter. Und er fordert das Publikum auf, seine Gedichte zu pflücken. Das haben wir neulich auch K. gesagt, als sie fragte, was das – wir standen gerade am Graben vor der Pestsäulenverplattung – denn für Zettel wären, die da am Bauzaun flatterten.

Das, sagten wir der Wienbesucherin, sind Seethalerzettel. Gedichte zum pflücken. Ich ergänzte, dass Seethaler so was wie eine querulatorisch-literarische Stadteinrichtung sei, die sich seit Jahren mit Behörden, Institutionen und Stellen in den Haaren läge, ob seine Zettelgedichtklebungen nun Kunst oder Beschädigung diversen Eigentums sei.

Endlosstreit

Aber irgendwann, setzte ich seufzend nach, hätten alle – vermutlich auch Seethaler selbst – entweder das Interesse an oder den Überblick über den Streit verloren: Ob, und wenn ja wie, er schlussendlich geendet habe, sei unklar. Ob Seethaler immer noch per Fax an alle Redaktionen fürchte, dass seine Kinder bald auf der Straße verhungern, wisse ich nicht – aber seine Zettel gäbe es immer noch.

Und – erinnerte ich mich – manchmal klebe Seethaler nicht, manchmal unterschöbe er. Seethalerzettel sähe ich auch, wenn ich vor dem Aufsperrend er Läden über die Mariahilfer Straße liefe: Dort, wo die Dichtungen der Glastüren es zulassen, lägen oft ein paar handvoll Zettel im Shop-Entree. Sie sähen jedenfalls seethalerhaft aus. Ob sie wirklich vom Zetteldichter seien, wisse ich nicht, gestand ich K.: Ich sei nämlich noch nie stehen geblieben, um die Seethalerauthentizität zu überprüfen.

Inhalt und Verse

K. hatte interessiert zugehört. Dann fragte sie. Was Seethaler denn dichte. Ob das gut oder interessant sei. Worum es in seiner Prosa gehe. Und ob es die auch in Buchform gäbe. Wir waren betreten: Auf diese Idee, stotterte P. dann, sei er noch nie gekommen. Mit Seethaler sei das so wie mit dem Donauturm. Oder der Kapuzinergruft: Jeder kenne sie – aber ohne zwingenden Grund ginge man nicht hin.

K. nickte. Und pflückte ein Gedicht. Sie las, runzelte die Stirn – und zerknüllte den Zettel. Dann ging sie weiter. Wortlos. Als P. auch pflücken wollte, fuhr sie ihn an: Er solle das lassen. Um der Legende Willen. Die Seethaler-Legende, sagte K., sei interessanter als das, was sie auf dem Zettel gelesen habe. Und eigentlich sei sie von uns enttäuscht: Als gute Gastgeber wäre es unsere Pflicht gewesen, sie daran zu hindern in die Seethalerfalle zu tappen – und sich ein Gedicht zu pflücken..