Margareta Klobucar als Manon Lescaut in Hans Werner Henzes "Boulevard Solitude", umringt von den Bewunderern David McShane (Lescaut) und Wilfried Zelinka (Lilaque le fils).

Foto: Oper Graz
Graz hat seit Samstag eine Opernproduktion, mit der sich auf jeder Bühne der Welt Staat(soper) machen ließe. Die Premiere von Hans Werner Henzes "Boulevard Solitude" unter der Leitung von Johannes Stert und in der Inszenierung von Gert Hagen Seebach wurde stürmisch gefeiert.


Graz - Freilich zählt Hans Werner Henzes genialischer Opernerstling Boulevard Solitude nicht eben zu den Megasellern des Musiktheaters, zu dessen Premiere auch die Grazer ihr Opernhaus nicht gerade stürmten. Man könnte dieses "lyrische Drama" als Folge eines Kinobesuchs bezeichnen. Henri-Georges Clouzots Film Manon (1948) hat Henze so sehr beeindruckt, dass er - Massenet hin, Puccini her - Abbé Prevosts über 200 Jahre alten Stoff vom Niedergang einer lebenslustigen Dame 1951 zum dritten Mal in Klang setzen wollte.

Dieses, von Grete Weil als sensibler Textautorin begleitete Unternehmen als zeitgenössische Oper zu bezeichnen fällt schwer. Es erweist sich als ein Fanal des Existenzialismus, als ein hochartifizielles Biotop mentaler Aussichtslosigkeit. Eher sprechen Zeichen dafür, dass es sich um eine Oper der Zukunft handelt, wenn sich auch die letzten Yuppies und Hauruck-Sager beim AMS melden müssen. Dessen Kunstadresse könnte dann sehr gut Boulevard Solitude lauten.

Es spricht für diese Produktion, dass sie sich auf derlei Perspektiven erst gar nicht einlässt, sondern die Handlung zu einem surrealen, hauptsächlich der optischen Kulinarik verpflichteten Traumspiel verklärt.

In einem von Hartmut Schörghofer großzügig gestalteten Einheitsbühnenbild, das mit klassizistischen Kürzeln Großbürgerlichkeit andeutet, lässt Regisseur Gert Hagen Seebach die einzelnen Gestalten wie in fern- (und mitunter auch drogen-)gesteuerter Trance ihre eher choreografisch als dramaturgisch vorgegebenen Gänge und Aktionen vollführen. Vor dem sensibel changierenden Pastellgrau der hohen Wände wirken die von Ragna Heiny überwiegend in zarten Farben gekleideten Akteure wie Attrappen ihrer selbst.

Strikte Verweigerung

Damit transportiert diese Inszenierung die Handlung zwar nicht immer in der erwarteten drastischen Schlüssigkeit, umso mehr aber wird sie Hans Werner Henzes ästhetischem Zugang zu diesem Stoff gerecht. Er besteht in der Hauptsache aus der strikten Verweigerung gegenüber dem Nächstliegenden und inkliniert kompositorisch eher zu paradoxen Reaktionen. Die Musik illustriert die Handlung nicht, sie begleitet sie vielmehr in autonomer stilistischer Vielfalt. Und deren makellose und anhaltend spannende Entfaltung durch das von Johannes Stert mit inspirierender Präzision geleitete Grazer Philharmonische Orchester ist das imponierend sichere Fundament der respektablen Produktion.

Dieser in vieler Hinsicht an Richard Strauss erinnernde distanzierte Bedacht, mit dem der zurzeit der Entstehung dieses Werkes erst 25-jährige Henze die diversen Möglichkeiten der musikalischen Äußerung von Dodekafonie bis zum Jazz auswählt und einsetzt, wurde in dieser Wiedergabe richtigerweise überhaupt nicht merkbar. Vielmehr verschmolzen die einzelnen Elemente zu einem stets schlüssigen Ganzen.

Und dies nicht nur in den sich zu sinfonischer Autonomie erhebenden Zwischenspielen, sondern auch in der Deutlichkeit und dynamischen Geschmeidigkeit, bei der Führung und Unterstützung der Solisten.

Bei Margareta Klobucar als Manon Lescaut weckt allein schon der Familienname nostalgische Erinnerungen an die unvergessenen Wagner- und Strauss-Abende unter der Leitung des einstigen Opernchefs Berislav Klobucar. Singend vermag die Dame dieses Namens durchaus an diese großen Zeiten anzuschließen. Denn durch den Stil der Inszenierung war die vokale Expression besonders stark gefordert.

Andries Cloete gab seiner Tenorpartie als Manons marodierender Bewunderer Armand fast oratorische Feierlichkeit. Und auch David McShane, Manuel von Senden, Wilfried Zelinka und Alexander Puhrer hielten das hohe Niveau dieses Abends. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 25.4.2005)