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Stewart O'Nan:
"Abschied von Chautauqua"
Aus dem Englischen von
Thomas Gunkel. € 25,60/700 Seiten. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 2005

Foto: Archiv
Aufbruch nach Chautauqua. Eine amerikanische Familie begibt sich in die Sommerfrische. In separaten Autos reisen an: Emily Maxwell und ihre Schwägerin Arlene; Emilys Sohn Ken, seine Frau Lisa, die Kinder Ella und Sam; Emilys Tochter Meg, die Kinder Susan und Justin. Sieben Tage werden sie auf engem Raum miteinander verbringen, 700 Seiten wird der geduldige Leser ihren Wegen, Gedanken und Verrichtungen folgen.

Für die Maxwells geht eine Tradition zu Ende. Es wird ihr letzter Familienurlaub in Chautauqua im Staat Pennsylvania sein. Großvater Henry ist im Vorjahr gestorben, Witwe Emily hat das Sommerhäuschen daraufhin zum Verkauf ausgeschrieben. Nun heißt es Abschied nehmen von Chautauqua, von einem Stück Familiengeschichte und allen damit verbundenen Erinnerungen.

Im Original trägt Stewart O'Nans Roman den Titel Wish You Were Here, nach jener sentimentalen Wendung, die Jahr für Jahr unzählige Urlaubspostkarten ziert. Dabei wünschen sich die Figuren in dem Buch meist nur, sie selbst wären woanders als hier. Von einem Idyll ist ihr sommerliches Familienstelldichein nämlich weit entfernt. Doch anders als sonst bei O'Nan, wo sich im normal verzweifelten Mittelstandsleben gerne einmal ein tödlicher Exzess ereignet, handelt sein neuer Roman "nur" von diesem normal verzweifeltem Leben.

Da wäre etwa Meg, die von ihrem Mann Jeff sitzen gelassen wurde und gern glauben würde, dass das nur an dessen Lust auf seine junge blonde Sekretärin lag, nicht auch an ihrer eigenen Untreue und ihrem Alkoholismus. Die sich das Haus in guter Nachbarschaft, das sie mit den Kindern bewohnt, nicht mehr lange wird leisten können. Die zwar nach ihrer Entziehungskur bislang trocken geblieben ist, der ihr Leben davon abgesehen aber restlos entglitten ist. Wie ihrer Mutter, der sie von Jugend an ein Problemkind war, von alldem erzählen?

Oder Ken, der einst so hoffnungsvolle Fotograf, der stets ein Epigone seines Lehrmeisters blieb und nach zwanzig Jahren alle Vorschüsse auf seine künstlerische Karriere längst aufgebraucht hat. So trägt jede der Figuren auf Bootsfahrten, an Regentagen im Haus, beim Golf und beim Essen ihren Rucksack voller Probleme mit sich. Ob es nun Arlene ist, die sich nach dem Tod ihres Bruders noch mehr wie das fünfte Rad am Familienwagen fühlt, die von Unsicherheit, Kleptomanie, Teenagerliebe und lesbischen Gefühlsaufwallungen geplagten Kinder oder der alte Hund Rufus, der sich ziemlich oft übergeben muss. Für manche Geschmäcker wird Abschied von Chautauqua die eine oder andere Frühstücks- oder Grillszene zu viel aufweisen, andere werden das Fehlen einer nachvollziehbaren Handlungsentwicklung bemängeln, und überhaupt dauert es seine Zeit, bis man sich an den nicht nur für O'Nan ungewöhnlich entschleunigten Erzählton gewöhnt. Doch hat man sich bei der Lektüre einmal in den Rhythmus zelebrierter Langsamkeit eingefunden, dann ist dieses Buch für Genießer ein Slowfood-Fressen erster Güte.

O'Nan erweist sich mit Abschied von Chautauqua als ein Meister des weit ausholenden, multiperspektivischen Erzählens. Technische Virtuosität befindet sich hier im Einklang mit großem Einfühlungsvermögen für die Figuren. Jeder von ihnen hat der Autor eine eigene Art zu denken und mit ihrer Umgebung zu kommunizieren zugedacht, vereint sind sie in ihrem Hang zu lockerer, alltäglicher Sprache, die mitunter schlampig wirkt, aber nur realistisch ist (und seien wir uns ehrlich, über einfältige Gestalten, die wie auf Knopfdruck hochgeistige Betrachtungen in gewählten Worten zum Besten geben, verfügt die jüngere Literaturgeschichte bereits mehr als ausreichend).

"Fotografiere genug, dann kommt schon was", wurde Ken von seinem Fotografie-Professor als Ratschlag mit auf den Weg gegeben. In diesem nebenbei geäußerten Satz versteckt sich ein Schlüssel zu O'Nans Erzählen. Wenn man nur genug Wirklichkeit in sich aufnimmt und gut hinschaut, kommt dann auch irgendwann Literatur raus, könnte ein Credo des vor seiner steilen Autorenkarriere als Luftfahrtsingenieur tätigen US-Amerikaners lauten. Ein anderes hat er in einer Passage versteckt, in der Kens Gattin Lisa enttäuscht einen Harry Potter-Band zur Seite legt: "Es gab nichts Wirkliches, woran sie sich halten konnte - es war zu simpel. Sie wollte Wirklichkeit, Vielschichtigkeit, nicht dieses endlose Märchen, in dem das Gute belohnt wurde. Sie wollte das Leben."

O'Nan stellt dieses dar, wie es ist. Meistens mäßig aufregend, wenig mehr als die Summe der täglichen Verrichtungen. Am intensivsten aber oft dann, wenn es darum geht, Abschied zu nehmen, sich zu erinnern und dabei zu sortieren, was noch von Bedeutung ist. Am Ende bleiben von der Vergangenheit, von Chautauqua und Henry Maxwell nur ein paar Möbelstücke und Krimskrams. Und das Leben, das weitergeht: "Benzin fürs Auto und Hundefutter. Eine neue Glühbirne fürs Bad. Die Milch im Kühlschrank und die Eier waren nicht mehr gut." (ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 16./17.04.2005)