Vor Jahren geisterte das Gespenst vom Wirtshaus-Sterben durch die Stadt, als viele, auch klangvolle Weihestätten Wiener Gastlichkeit plötzlich von Drogeriemärkten und Chinarestaurants verdrängt wurden. Wirklich schade war es nur um wenige. Oft hatten Küche und Service über Jahrzehnte derart dahingeschludert, dass kaum mehr, als die hohlen Gerippe einst gastlicher Häuser auf dem Sperrmüll der Stadtgeschichte landeten.

Bei manchen aber schmerzt der Verlust bis heute. Das legendäre Speisehaus Koranda auf der Wollzeile etwa, mit seinen täglich frisch hektographierten Speiskartenblättern, verkörperte einen Variantenreichtum der Wiener Küche, wie er in dieser Geschmackssicherheit wohl für immer verloren ist. Heute, 20 Jahre später, wird am selben Eck mit sagenhaftem Erfolg gesottenes Rindfleisch serviert - und sonst fast gar nichts mehr...

Beisl und Wirtshäuser gibt es nach wie vor viele, und etliche kochen mit sicherer Hand eine durchaus anständige, manchmal sogar beglückende Wiener Küche. Im Wesentlichen werden jedoch Traditionen verwaltet.

Es gibt noch Überraschungen

Umso schöner, dass man noch Überraschungen findet. Auf der ansonsten trostlosen Erdbergstraße, dort, wo der dritte Hieb langsam zur Vorstadt wird, hat Thomas Gassner ein neues Wirtshaus aufgesperrt. Rein optisch ist die Gaststätte nicht wirklich eine Zierde, und das ist noch das freundlichste, was man über den Saal mit dem nackerten Charme einer Bahnhofsrestauration sagen kann: Ein paar Zierkürbisse, ein Kunst-Poster mit den bekannten Sonnenblumen, das war's dann schon. Durch die Straßenfenster stiert das traurige Büromonster der Firma Henkel auf die Tische. Wenigstens kann nichts vom Studium der Speisekarte ablenken. Das ist auch der Moment, wo einem klar wird, dass die Wiener Küche hier mit einem Ernst behandelt wird, der geradezu museal anmutet: Ausländischer als "Cordon bleu" wird es nicht.

Die Suppeneinlagen, flaumige Leberknödel etwa, sind hausgemacht, zum Schulterscherzl serviert man Grammelschmarren. Ein Häuptelsalat begleitet das cremige Hirn mit Ei und ist mit wunderbar pikanter Alt-Wiener Marinade angemacht, der, seltenes Glück, kein Gramm Zucker zu viel gegönnt wurde. Auch sonst gibt's seitenweise Klassiker: Leber geröstet und gebacken, Nierenbraten, Kalbsbeuschel, Wiener Backfleisch, ein Kalbsrahmgulasch mit Butternockerln in Oma-Qualität - die Karte strotzt nur so vor Leckerbissen für Food-Nostalgiker.

Variantenreiche Karten

Nicht alles wird dauernd gekocht, ein Teil der Karte variiert alle zehn Tage. "Wenn uns die Innereien ausgehen, dann gibt es sie erst dann, wenn Schlachttag war - also am Dienstag", erklärt Thomas Gassner, ein Hinweis, wann der Besuch besonders lohnt. Zwar wurde Gassner in eine Wirtsfamilie geboren, seine bisherige Karriere, unter anderem als Manager der Fußballerkantine "Noodles" und des Dachrestaurants "Sky", haben ihn jedoch kaum auf derart kompromissloses "Rebirthing" von fast schon vergessenen Wiener Klassikern konditioniert. "Ich hab' mir gedacht dass wegen der nächsten Fusion-Hütte sicher keiner nach Erdberg kommt", sagt Gassner, "so konzentriere ich mich auf das, was ich selber gerne mag. Also ehrliche Schmankerl mit einem guten Preis-Leistungsverhältnis."

Letzteres ist tatsächlich beinahe konkurrenzlos, die Versuche, der Wiener Beislküche neues Leben einzuhauchen, fallen anderswo meist zahmer aus. Dafür macht dann das Interieur auf originalgetreu und sieht so aus, als hätte das Backfett tausender Schnitzel-Generationen die edle Patina besorgt. (Severin Corti/Der Standard/rondo/15/04/2005)