Provokant? Sensationell? Revolutionär? Nein, auf die Entwicklungen im Design der vergangen Jahre bezogen, trifft wohl keines dieser absolut Neues apostrophierenden Attribute zu. Weder erlebten wir eine den grellbunten Auftritte der Gruppe MEMPHIS vergleichbare Inszenierung, weder ein pädagogisch durchdrungenes Glaubensbekenntnis à la Neue Bescheidenheit noch eine Flut künstlerisch durchwachsener Botschaften wie zu Zeiten des Neuen Deutschen Designs der 80er-Jahre: nichts von alledem.

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Also kein Konzept nirgends? Mitnichten! Es tut sich etwas im Design, es tut sich sogar sehr viel. Allerdings nicht unter dem Siegel einer akademisch ausbalancierten Ideologie, nein, die Zauberformel unserer Tage heißt Material plus Technologie multipliziert mit Neugierde. Kaum eine Ausgabe der führenden Designmagazine, in der nicht ein Möbel, ein Gerät oder eine schlichte Vase vorgestellt wird, deren innovativer Impetus sich nicht unter der Rubrik Technologie einordnen ließe. Und es sind keineswegs immer die Gleichen, wie die inzwischen zu Klassikern gereiften Jasper Morrison, Ron Arad, Marc Newson, Konstantin Grcic oder die Droog Veteranen Hella Jongerius und Marcel Wanders, denen die führenden Hersteller das ingeniöse Know-how zur Seite stellen, sondern zunehmend bis dato weitestgehend unbekannte Newcomer, die in der wuchernden material world geradezu exotisch anmutende Konstruktionsmöglichkeiten entdecken.

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Jüngstes Beispiel, und das im wahrsten Sinne des Wortes, ist der Holländer Peter Traag. Traag, gerade einmal 25 Lenze, schlägt die Negativform eines mehr oder weniger konventionellen Sessels mit einem circa 30 Prozent größeren Textilbezug aus und füllt diese Form mit Polyurethanschaum. Der sich ausbreitende Schaum entwirft sozusagen per Zufall die endgültige Textur, indem er den Bezug "irgendwie", aber dennoch druchgehend faltet: Jeder Sessel ist somit einzigartig, der Widerspruch zwischen Serie und Unikat ist hier auf frappierend einfache Art und Weise aufgehoben.

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Mit dem Thema Individualität in der Serie beschäftigt sich auch der Franzose Patrick Jouin. Und auch hier ist es das Verfahren, das die Einzigartigkeit gewährleistet. Allerdings bedient sich Jouin weniger aleatorischer Prinzipien. Jouin entwickelt seine Mobilien aus der schier unendlichen Bandbreite von 3-D-Programmen, die per Stereolithografie auf eine Masse von Kunststoffpartikeln übertragen werden und so die bizarrsten Strukturen generieren. Die geringste Veränderung in der Programmierung führt dementsprechend zu einem "neuen" Modell.

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Dass es sich bei dieser Art der Formfindung keineswegs nur um Spielerei handelt, belegt ein Projekt der Berliner Designer Vogt & Weizenegger. Bereits im Jahre 2002 eruierten sie anhand dieser Technik die Möglichkeiten der Herstellung passgenauer, das heißt auf die Maße eines jeden Nutzers individuell abgestimmter Stühle. Ihr so genannter Sinter-Chair basiert auf einer präzisen, dem Body-Scanning ähnlichen Vermessung des kommenden "Besitzers", die, ähnlich wie bei Jouin, innerhalb eines feststehenden Konstruktions-Parameters in ein maßgeschneidertes Modell übersetzt wird. Einzig die enormen Kosten (Einzelstücke ab circa 4000 Euro, Bestellungen werden gern entgegengenommen) verhinderten bislang die massenhafte Verbreitung dieser Einzelanfertigung. Aber es sind nicht nur solch avancierte Herstellungstechnologien, die die allseits zu konstatierende materiale Zuwendung begründen. Vielmehr ist es auch ein absolut unkonventioneller Blick auf vermeintliche Zweckbindungen und Festlegungen, der zu immer neuen Perspektiven im Design führt.

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So war bis vor wenigen Jahren die Anwendung des Materials Technogel ausschließlich auf den therapeutischen Bereich festgeschrieben, bis der Designer Werner Aisslinger entdeckte, dass eine ganz wesentliche Eigenschaft dieses Materials die Qualitäten herkömmlicher Polstermaterialien weit übertrifft. Technogel, ein auf Polyurethanbasis hergestellter Kunststoff, verhält sich nämlich wie eine Flüssigkeit, d. h. die belastete Fläche wird nicht komprimiert, also verfestigt, sondern sie wird "verdrängt" und "fließt" nach der Belastung wieder in ihre ursprüngliche Form zurück. Der Vorteil, z. B. für ein Polstermöbel, ist offensichtlich: Wo man gemeinhin circa fünf Zentimeter eines herkömmlichen Polstermaterials benötigt, um einen bestimmten Grad an Nachgiebigkeit zu erreichen, genügt ein Zentimeter dieses Materials, um den gleichen Effekt zu erzielen. Eine solche Verwendung kann natürlich nur dann funktionieren, wenn auch die Ästhetik stimmt. Und das ist hier absolut gegeben. Sieht man diese Gel-Möbel das erste Mal, käme man nie darauf, dass es sich bei diesem transluzenten, an Gummibärchenmasse erinnernden Polster um ein Material aus dem Reich der Medizin handelt.

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In die Abteilung ästhetisches Faszinosum muss man auch die Arbeit der Spanierin Patricia Urquiola und erst recht die der Gebrüder Bouroullec aus Paris einordnen. Hier sind es vor allem die Strukturen der verwendeten Materialien - Urquiolas Leuchte Bague für Foscarini, ein durch Silikonharz verstärktes Metallgewebe - oder die Art und Weise, wie mit Kunststoffen ein strukturelles Element geschaffen wird.

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Die so genannten Algues der Gebrüder Bouroullec sind feinste Kunststoffzweige, die beliebig und unbegrenzt zusammengesteckt werden können. Wie man diese filigranen Gewebe letztendlich einsetzt - als Vorhang, als raumteilendes Geäst oder als nicht näher definierte Wucherung - bleibt jedem selbst überlassen: Auf Anleitungen verzichtet man heutzutage. Natürlich erinnert dieser fast schon inflationäre Einsatz von Plaste und Elaste an die Hoch-Zeit des Kunststoffs in den 60er- und 70er-Jahren. Aber im Unterschied zu jenen Jahren, als man in der dreidimensionalen Form- barkeit der Kunststoffe primär die Möglichkeit sah, die Beschränkungen der bis dahin eingesetzten Materialien Schichtholz, Stahlblech und -rohr zu überwinden, geht es heute darum, nicht nur die Formbarkeit der Kunststoffe zu nutzen, sondern darüber hinaus auch ihre Konsistenz, ihre Textur in die festgefahrene Produktsprache einzuführen.

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Originellstes Beispiel hierfür sind wohl die Weichteile der Holländerin Hella Jongerius, die Soft Urne (1994), die Soft Vase (1994) und das Pushed Washtub (1996), mit denen sie vorführte, wie man durch einen simplen Festwert-Turnaround selbst in eigentlich stabilen Gattungen zu einem grundsätzlich anderen Produktverständnis kommen kann.

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Ähnliches realisierte Marcel Wanders, der zwar keinen Stoffwechsel vollführte, der aber ebenfalls Kunststoffe nutzte, Schnüre oder Spitzendeckchen mittels Kunstharz so weit zu härten, dass sich daraus Tische und Stühle herstellen ließen. Aktuell ist es der Engländer Paul Cocksedge, der solch fragiles Geschirr wie Pappbecher in einem ausgefeilten Prozess zu "steifen" Schalen und Vasen umformt: Recycling mutiert zur kreativen Mehrwertschöpfung. Wie gesagt, es tut sich was im Design. Und das bezieht sich nicht nur auf den hier kurz besichtigten Materialismus, auch die Konventionen und Verhaltensmuster werden neu vermessen und in "andere" Formen transformiert. Man schläft im Büro, man isst unterwegs und man arbeitet am Strand: Es gibt viel zu tun für die Designer. Was die Auswahl und den Umgang mit den entsprechenden Materialien angeht, scheinen sie bestens gerüstet.
(Volker Albus/Der Standard/rondo/08/04/2005)

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