Foto: Weisgram
Hochwolkersdorf - Waltraud Gruber ist nicht nur Bürgermeisterin. Sie ist auch Kustodin. Zufällig hereinschneienden Besuchern öffnet sie bereitwillig den Gedenkraum, und ebenso bereitwillig führt sie einen von Vitrine zu Vitrine, ein wenig stolz auch darauf, dass gerade hier, im kleinen Hochwolkersdorf am hinteren Rand der Buckligen Welt, ein so wesentliches Kapitel österreichischer Geschichte geschrieben wurde.

Zwei Kapitel, um genau zu sein. Am 1. April 1945 hatten sich, im Auftrag von Major Carl Szokoll, Oberfeldwebel Ferdinand Käs und Obergefreiter Johann Reif von Wien aus auf den Weg nach Süden gemacht. Sie sollten Kontakt mit der Roten Armee aufnehmen und über die kampflose Übergabe Wiens verhandeln. Käs und Reif wurden am Abend des 2. April nach Hochwolkersdorf gebracht, wo die 9. Sowjetische Gardearmee - ein Teil der 3. Ukrainischen Front - ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatte.

Am Tag darauf, am 3. April, erschien ein alter, weißhaariger Mann auf der sowjetischen Ortskommandantur des nahen Gloggnitz und bat um schonende Behandlung der Bevölkerung. Was der 75-Jährige - der, nachdem er zur Anschlussfrage nicht hatte schweigen können - den Krieg am Fuße der niederösterreichischen Alpen verbracht hatte, nicht wusste: Er wurde bereits gesucht. Stalin hatte schon Ende März befohlen herauszufinden, wo "jener Sozialdemokrat Karl Renner, der ein Schüler von Karl Kautsky war" sich aufhalte. Der Politoffizier der 103. Garde-Schützendivision brachte den "stattlichen Greis" - wie ein Offizier in seinen Erinnerungen schrieb - ebenfalls zum Stab nach Hochwolkersdorf; Renner wurde im Haus Nummer 111 einquartiert wurde, wo Käs und Reif schon logierten.

Diese beiden arbeiteten einen Übergabeplan für Wien aus, der allerdings nach ihrer abenteuerlichen Rückkehr verraten wurde. Die Offiziere Biedermann, Huth und Raschke wurden am Floridsdorfer Spitz aufgehängt. Der Kern des Planes von Szokoll wurde dennoch ausgeführt: Die Rote Armee griff Wien nicht im stark befestigten Süden an, sondern von Westen und Osten, während sich die 2. Ukrainische Front von Norden her näherte.

Stalin war unterdessen von Renners Auftauchen informiert und befahl dem Oberkommandierenden der 3. Ukrainischen Front, Fjodor Iwanowitsch Tolbuchin, Renner "Vertrauen zu erweisen". Stalins Respekt vor Renner - und die tollkühne Fahrt durch die Front von Käs und Reif - erleichterten die rasche Einrichtung einer gesamtösterreichischen Regierung. Die trat am 29. April, einen Monat, nachdem die Rote Armee bei Klostermarienberg Österreich betreten hatte, zum ersten Mal zusammen. (wei/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 2. 4./3. 4. 2005)