Die Politik in Österreich, sie gleicht zuweilen einem Theaterstück. Der Essayist Wolfgang Müller-Funk beschreibt das Land nach dem Mai 2019 in seinem Gastkommentar in fünf Szenen.

Es ist in den letzten Tagen und Wochen so unendlich viel darüber geschrieben worden, über Ibiza, über den komisch-ernsten Sturz der Regierung und die Auflösung des politischen Spektakels. Wer oft außer Landes ist, der gerät automatisch in die Rolle des Österreich-Erklärers, ist doch das Unverständnis ausländischer Freunde und Kollegen durchaus echt.

Absurdes Theater

In einem Gespräch in der Wochenzeitung "Die Zeit" spricht Eva Menasse, die seit zwanzig Jahren in Berlin lebt, von der Situationskomik, der sprachlichen Kreativität und der Wendigkeit der österreichischen psychisch-symbolischen Realverfassung. Eingebettet ist sie in das, was ich die Allgegenwärtigkeit des Theatralischen nennen möchte. Das Komische braucht dabei keineswegs lustig zu sein – ganz im Gegenteil, ist es doch mit dem absurden Theater verwandt.

Jaja, es mag viele dunkle Gestalten geben, die in der österreichischen Politik zugange sind. Eine gewisse Farbe verleihen sie derselben dennoch. Nur, das Grunddilemma der österreichischen Politik lässt sich halt eben auch von einem Präsidenten mit dem Feuerlöscher nicht lösen.
Cartoon: Felix Grütsch

Bereits die erste Episode in der jüngsten Komödie, Ibiza, muss Könner des Metiers wie den Dramolettschreiber Antonio Fian oder den Filmemacher Ulrich Seidl vor Neid zum Erblassen bringen. Dieses angesäuselte, übrigens keineswegs besoffene großtuerische Touristenduo, dessen Sprüche so leger wirkten wie seine Leiberln, hätten Gerhard Bronner / Helmut Qualtinger nicht besser erfinden können.

Die Szene, in Ibiza und nicht in der Eden-Bar, war arrangiert, aber die Akteure spielten höchst glaubwürdig. Offenkundig hat beim "heimischen" Publikum Identifikation eine Rolle gespielt. Das machen sie ja alle. Nur leider sind die beiden von der berückenden Dame übers Ohr gehauen worden. Così fan tutte. Das ergibt ins Politische übertragen 45.000 Vorzugsstimmen aus der digitalen Fanmeile.

Die zweite Szene ist ein Monolog, in dem die Reue sich wie das Gestottere eines Mannes ausnimmt, der spätnachts nach Hause kommt und von der Frau Absolution erbittet. Die auch ausgiebig erteilt wird. Von politischen Verfehlungen und versuchter Korruption keine Rede. Wohl aber von Verschwörung: das garstige russische "Weib". Wär er doch nur bei Philippa zu Hause geblieben! Mit Verständnis ist zu rechnen. Strache wird nicht im Gefängnis enden wie Strasser, sondern womöglich wie dieser, aber in umgekehrter Richtung, im Europaparlament.

Kanzler aus dem Schneider

Ganz kurz die dritte Szene, der verspätete Auftritt des so arglistig getäuschten Bundeskanzlers im Kontext jugendlicher Protestanten auf dem Ballhausplatz, der nicht wissen konnte, welch Risiko und welche Verantwortung er sich mit jenem Mann fürs Grobe aufgehalst hat, den er und auch der Bundespräsident niemals hätten zum Innenminister machen dürfen. Aber er hat, spät genug, gehandelt. Er ist aus dem Schneider. Die Opposition hat dessen Abberufung schon lange gefordert. Dass sie ihn deshalb nun stürzt, hat eine Logik, der nicht alle im Land folgen werden.

Ausführlich ist der vierte Auftritt geraten, der Sturz einer machtlos gewordenen Regierung. Eigentlich kein Kunststück, aber der österreichische Sinn für Theatralik macht ihn zu einem. Zuerst der Vorschlag des gewieften Verfassungskenners Alfred Noll (und seiner Liste, die nichts mehr zu verlieren hat), den Kanzler zu stürzen, der dann von Rendi-Wagner, der unerfahrenen und schlecht beratenen Königin im politischen Schachspiel, noch überboten wird.

Sturz des Gegners

Die ohnehin unruhige Basis der SPÖ gerät ins Kochen. Es gibt nun kein Zurück mehr. Das Moment der Rache und der Wunsch nach Einigung des eigenen Lagers durch den Sturz des Gegners sind mit Händen zu greifen. Anders herum wäre es klüger gewesen: Druck auf die machtlos gewordene Regierung aufzubauen und, wenn schon, dann ein richtiger Sturz, der wie in Spanien die Sozialdemokratie politisch nicht ganz lupenrein, aber effizient zurück an die Macht brachte.

In Anlehnung an eine historische Sentenz lässt sich sagen, dass es Siege gibt, die Niederlagen sind. Die Regierung mithilfe der Gerade-noch-Strache-Partei frei nach dem Motto "Der Zweck heiligt die Mittel" zu stürzen ist keine ethische Meisterleistung. Machtpolitisch betrachtet ist es ein Desaster, wird doch der Zweck der Übung – Stärkung der Partei und Schwächung des Gegners – meilenweit verfehlt.

Wobei anzumerken ist, dass Kelsens Verfassung den Schönheitsfehler hat, dass eine Regierung gestürzt werden kann, ohne dass die betreffende Mehrheit die Verantwortung für eine neue übernehmen muss.

Feuerlöscher Van der Bellen

Diese fällt dann in diesem politischen Sittenstück, das zuweilen zu einer Feuerwehrübung gerät, auf den Bundespräsidenten zurück, der die Rolle des Feuerlöschers souverän übernimmt und damit – wohl zum ersten Mal – von der "Kronen Zeitung" ausdrückliches Lob erfährt.

In der fünften und letzten Szene wird sichtbar, wie enden wollend die heimische Lust an der Revolte und wie groß das Bedürfnis nach Harmonie ist. Aus dieser widersprüchlichen Seelenlage resultiert übrigens das Granteln. Der in jeder Hinsicht honorige Präsident hat das sofort erkannt – im Gegensatz zu fast allen anderen. Nestroys "Freiheit in Krähwinkel", Kommentar zur Revolution von 1848, lässt grüßen.

Neue Königin

Auch dort gerät der Aufstand zur Posse. Am Ende steht anno 2019 der Auftritt einer neuen, bürgerlichen, liberal-konservativen "Königin", die mit dem Bundespräsidenten beruhigend verkündet, was alle schon zuvor wussten, dass es hierzulande eine unabhängige Justiz, eine funktionierende Verwaltung und auch freie Medien gibt. Frei nach Grillparzer: Es ist ein schönes Land.

Großzügige Fortuna

In dieser politischen Sittenkomödie ist vorerst der Vorhang gefallen. Bis auf weiteres stehen die Sieger fest, der Präsident und die erste, interimistische Kanzlerin, der junge Ex-Kanzler, der schon bald aus dem Exil zurückgekehrt ist, Beate Meinl-Reisinger, die ihre sozialdemokratische Konkurrentin in puncto politischer Klugheit blamierte, und, neben der "Kronen Zeitung", die nun das Prädikat staatstragend vor sich hertragen darf, jene Grünen, die zum ersten Mal froh sein dürften, erst im Herbst wieder im Parlament zu sitzen. Dass es ihnen politisch so viel besser geht, dazu haben sie wenig beigetragen. Manchmal ist Fortuna ausnehmend großzügig.

Ob das Grunddilemma der österreichischen Politik, die schlechte Wahl zwischen einer unmöglichen großen Koalition und einem Bündnis mit jenen hellbraun-anstößigen Robin Hoods, überwunden werden kann oder ob nicht der Wiederholungszwang obsiegt, bleibt offen.

Ball liegt bei Grün und Pink

Der Ball liegt bei Grün und bei Pink. Inzwischen dürfen Philippa und ihr Mann in Dirndl und Lederhose noch überlegen, wie es mit ihnen politisch weitergeht. (Wolfgang Müller-Funk, 14.6.2019)