Helmut Deutsch: "Ich muss schon sagen, dass mich meine Karriere verblüfft hat."

Shirley Suarez

"Ich glaube, nie zuvor habe ich einen Sänger so viel über das Essen reden gehört", schreibt Helmut Deutsch über Tenor Piotr Beczała in seinem Buch Gesang auf Händen tragen. Der Star unter den Klavierbegleitern muss es wissen, er hat Vergleichsmöglichkeiten sonder Zahl. Zu seinen Partnern gehörten einst Hermann Prey, Irmgard Seefried und Ileana Cotrubas. Von den aktuellen Stars sind unter anderen Jonas Kaufmann, Matthias Goerne und Diana Damrau dabei. Von ihnen allen, wie auch von Beczala, mit dem er am Mittwoch im Musikverein zu hören ist, erzählt Deutsch so direkt wie respektvoll. Nebstbei liefert er Einblicke in den speziellen Beruf des Klavierbegleiters.

STANDARD: Wer in Ihrem Buch die Würdigungen durch Sänger liest, entdeckt Komplimente wie "unfehlbar" oder "Ohne ihn wäre ich nie zum Lied gekommen". Man nennt Sie gar "Institution".

Deutsch: Es beginnt schon, etwas lächerlich zu werden. "Legende" oder "Papst" kommt auch häufiger. Das nimmt man zur Kenntnis, in dem Sinne: Ich bin wer.

STANDARD: Trotzdem sind Sie eher der Mann im Hintergrund.

Deutsch: Ja, aber das muss man auch wollen. Natürlich habe ich es gern, wenn mein Name nicht winzig geschrieben wird. Ich schätze es auch, wenn meine Gage angenehm hoch ist. Und ich freue mich, wenn Leute sagen: "Sie haben den Abend gemacht!" Es ist aber ein bisschen in den Genen, nicht an der Rampe stehen zu wollen. Ich war ja recht begabt, meine Mutter also etwas enttäuscht, dass ich nicht Dirigent oder Solist werden wollte. Beides war eben nicht so das Meine.

STANDARD: Sie sind in diesen Beruf also nicht hineingeschlittert?

Deutsch: Nein, das war schon der Traum. Es war ja untypisch, dass ein pubertierender Bursche Heine und Eichendorff am Nachtkästchen liegen hat. Die Liebesgedichte waren für mich ein Fressen, denn ich war oft ziemlich unschuldig vernarrt in Mädchen. Und als ich dann bemerkte, dass diese Gedichten auch noch vertont waren – und das nicht schlecht –, wurde die Freude umso größer. Wahrscheinlich war das der primäre Anziehungspunkt zum Lied.

STANDARD: Ihr Beruf hat im Laufe der Jahre doch eine regelrechte Aufwertung erfahren.

Deutsch: Der Hermann Prey, der für mich sehr wichtig war, hat mich zum Teil behandelt wie einen Studenten. Er konnte aber auch sehr herzlich sein.

STANDARD: Symbole der Gleichberechtigung?

Deutsch: Er hat etwa darauf bestanden, dass der Flügel so steht, dass die Saalmitte genau zwischen ihm und mir lag. Er wollte, dass wir gleichberechtigt wirken. Dass er alleine zum Verbeugen rausging, das ist was anderes.

STANDARD: Das klingt wie eine Geschichte aus einer fernen, "finsteren" Zeit.

Deutsch: Das gibt es heute nicht mehr. Ich kann mich an den Kollegen Erik Werba erinnern. Er ging immer so scheinbar mit raus und im letzten Moment wieder zurück. Das hat der richtig zelebriert, und manchem Sänger dieser Zeit hat das gut gefallen.

STANDARD: Noch so seltsame Geschichten?

Deutsch: Die gibt es: Der Gerald Moore hat ja auch noch Sänger wie Fjodor Schaljapin begleitet. Bei Schumanns Die beiden Grenadiere ist Schaljapin bereits im Nachspiel unter Applaus abgegangen, während Moore noch spielte, aber keiner mehr zugehört hat. Unfassbar! Eines habe ich grundsätzlich festgestellt: Man geht zweimal gemeinsam raus. Wenn beim dritten Mal der Sänger jedoch alleine vors Publikum tritt, ist der Applaus größer. Ist wirklich wahr!

STANDARD: Was muss ein Sänger haben, um Sie mitzureißen?

Deutsch: Abgesehen von der Stimmqualität, der Sprachbehandlung, der Intonation und der Technik ist mir wichtig, dass er sich öffnet. Das ist nicht einfach und bei Jungen oft ein Problem. Da sage ich manchmal: "Das reicht nicht mal bis zur dritten Reihe! Das muss auch dort ganz hinten ankommen!" Wenn das gelingt, begeistert mich das, ein falscher Ton ist nicht so schlimm. Prey etwa war sehr stark, hatte eine unglaubliche Intensität. Das kenne ich nur von wenigen, etwa von Matthias Goerne oder Jonas Kaufmann. Wenn man Kaufmann im vierten Akt von Carmen als Don José sieht, kann man gar nicht glauben, dass er auch nur eine Sekunde lang ans Singen denkt. Das ist selbst dann intensiv, wenn man den Ton abdreht.

STANDARD: Welche Typen von Sängern sehen Sie?

Deutsch: Es gibt die Lockeren und die Hysterischen, die man beruhigen muss. Denen vermittelt man das Gefühl, es wäre alles toll gewesen wie noch nie, auch wenn nur die Hälfte gelang. Ich habe Weinkrämpfe und halbe Zusammenbrüche erlebt. Sänger sind eben die empfindlichsten Künstler. Es gibt jedoch auch den Kaufmann oder den Mauro Peter – da ist nichts von Anspannung zu spüren. Auch heute nicht noch auf einem hohen Karriereniveau, auf dem jede Kleinigkeit penibel beobachtet wird.

STANDARD: Nie eine Solistenkarriere angepeilt?

Deutsch: In den letzten 15 Jahren gab es ja etliche Angebote für Soloabende. Nach 50 Jahren kann man mir aber glauben, dass es nie ein Ziel war. Typische Klavierliteratur hat mich nie interessiert. Nicht Schumann, nicht Brahms und schon gar nicht Chopin.

STANDARD: Was macht Sie also aus – als Klavierbegleiter?

Deutsch: Ich muss schon sagen, dass mich meine Karriere verblüfft hat. Ich habe jede Menge Pianisten kennengelernt, die technisch besser waren als ich. Ich habe unglaubliche Schwachstellen, die ich jetzt nicht aufzählen möchte. Ich habe natürlich versucht, Dinge zu verbessern. Ich hatte vielleicht dann nicht den langen Atem, Dinge drei Jahre lang zu üben. Es muss also etwas abseits der Technik sein, wohl ein Gefühl für den Klang und dieses Führenkönnen, ohne dass der Sänger sich dirigiert fühlt.

Klar, manchmal muss man eingreifen, selbst wenn es die letzte Probe ist. Dann wieder hält man einfach den Mund, damit der Sänger nicht die Nerven verliert. Das kann man zu Beginn der Karriere nicht können, das lernt man mit der Zeit. Man wird auch sensibler in Bezug auf die nicht direkt ausgesprochenen Reaktionen des Sängers. Das mag zu meiner Karriere beigetragen haben. (Ljubiša Tošić, 4.6.2019)