Wien – Mohammad Abdalla zeichnet einen Vogel auf das Flipchart, einen Adler aus einer arabischen Legende. "Ababil", schreibt er in Großbuchstaben darüber. Ein Bursch erzählte Abdalla, dass er nachts nicht schlafen könne, weil er träume, seine Eltern würden in einen Vulkan stürzen und verbrennen. Also riet Mohammad ihm, sich vor dem Schlafengehen ein alternatives Ende auszudenken: dass Ababil die Eltern auffängt und neben dem Kind absetzt.

Mohammad ist einer von 24 Trainern des Traumabewältigungsprogramms für geflüchtete Kinder, das der Wiener Verein Afya anbietet. Gegründet wurde es von Sabine Kampmüller, sie war zwanzig Jahre lang mit Ärzten ohne Grenzen unterwegs. "Etwa ein Drittel jener, die Krieg und Flucht erlebt haben, leiden unter einer Traumafolgestörung", sagt sie. Nach dieser Rechnung sind tausende traumatisierte Kinder an Wiens Schulen.

Langzeittherapie

Weil medikamentöse Behandlung bei Posttraumatischen Belastungsstörungen nicht anschlägt, sei oft eine Psychotherapie nötig, sagt Paul Plener, der Leiter der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die Uniklinik hat eine Ambulanz für Transkulturelle Psychiatrie, braucht ein Kind aber eine Langzeittherapie, muss es weitergeschickt werden. Nur sechs niedergelassene Traumatherapeuten gebe es in Wien, sagt Plener. Man vermittle viele Kinder an Hemayat.

100 Kinder auf der Warteliste

Die Wiener Hilfsorganisation Hemayat, die durch Folter und Krieg traumatisierte Menschen psychologisch und mit Dolmetschern betreut, hat 100 Kinder auf ihrer Warteliste. Der Verein kann sich pro Kind – jeder Flüchtling ist krankenversichert – 28 Euro von der Krankenkasse zurückholen, wenn die Therapie bewilligt wird. "Manchmal werden bei der Begutachtung keine Dolmetscher gestellt und Patienten deshalb abgelehnt" , sagt Cecilia Heiss, Geschäftsführerin von Hemayat.

Entscheidend für die Bewilligung einer Psychotherapie sei das vorliegende Krankheitsbild, heißt es dazu aus der Wiener Gebietskrankenkasse (WGKK). Und: Bei einer Begutachtung stehe Patienten frei, eine Vertrauensperson mitzunehmen, die übersetzt. Es werde "nicht nur der sprachliche Ausdruck, sondern der klinische Gesamteindruck beurteilt", schreibt Silvia Jirsa, Sprecherin der WGKK dem STANDARD.

In der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Ambulanz des Krankenanstaltenverbands (KAV) verweist man bei Fragen zur Traumatherapie auf die Psychosozialen Dienste, diese wiederum verweisen auf die Boje, ein Ambulatorium, das Akuthilfe für Kinder in Krisensituationen anbietet.

Stabilisierung

Bei etwa jedem fünften der gut 1400 Kindern, die im Vorjahr zur Boje kamen, ist der Vorstellungsgrund mit "Flüchtlingskind" angegeben. "Bei uns geht es in erster Linie um Stabilisierung", sagt Regnia Rüsch, Geschäftsführerin der Boje. Den aktuellen Bedarf könne man decken, so Rüsch, doch Kinder- und Jugendpsychiater seien schwer zu finden.

Shila Ahmadi, auch sie ist Trainerin bei Afya, sitzt gegenüber von Mohammad Abdalla, zwischen ihnen stehen Teller voller Erdnüssen und Teegläser. Hier in der Reflexionsstunde tauschen die Traumatrainer sich über ihre Erfahrungen aus. "Schwierig ist es, wenn die Eltern nie wieder über den Krieg reden wollen", sagt Ahmadi, auf Deutsch – mit den Kindern spricht sie meist Farsi und Dari. "Es ist wichtig, über Belastungen zu reden", sagt sie.

Traumata ziehen sich oft über Generationen hinweg. Forschungen zu Holocaust-Überlebenden untersuchen das seit Jahren. Und der Bursch? Der, so sagt Mohammad Abdalla, hat diesen Albtraum nicht mehr, seit er vor dem Einschlafen an Adler Ababil denkt.(Gabriele Scherndl, 28.12.2018)