Die Situation der SPÖ erinnert momentan stark an das Andersen-Märchen "Des Kaisers neue Kleider".

Cartoon: Michael Murschetz

Die SPÖ befindet sich in einem organischen Schockzustand und übt sich in einer künstlichen Geschlossenheit, die mehr an eine Sekte als an eine fortschrittliche Partei erinnert. Und wehe dem, der es wagt, das politische Harakiri von Christian Kern und Co anzusprechen. Die Situation erinnert momentan stark an das Andersen-Märchen "Des Kaisers neue Kleider", in dem aufgrund von Eitelkeiten und Unsicherheiten alle beim Festumzug sehen, dass der Kaiser nackt ist, aber sich niemand getraut, es auszusprechen. Die alte Dame Sozialdemokratie hat es nicht verdient, dass man so mit ihr umgeht, und natürlich auch nicht die treuen 180.000 verbliebenen SPÖ-Parteimitglieder. Aber jemand muss es tun: "Der Kaiser ist nackt, und das schon lange."

Wir müssen kurz die jüngere Geschichte bemühen, um das aktuelle Dilemma der SPÖ zu verstehen. Im Jahr 2006 gelang es der SPÖ knapp, die Nationalratswahl zu gewinnen. Aufgrund der Vranitzky-Doktrin blieb der SPÖ als Koalitionspartner nur die ÖVP, die die Situation wieder weidlich ausnützte und die SPÖ bei der Verteilung der Regierungsämter über den Tisch zog. Ein schwerwiegender Fehler, weil hier der neoliberale Turbo unter sozialdemokratischer Scheinführung gezündet wurde und klassische sozialdemokratische Inhalte der Koalitionsräson sukzessive untergeordnet wurden.

Realpolitische Enttäuschungen

Die eigenen Wählergruppen wurden laufend verraten, und Österreich versäumte sämtliche fortschrittlichen Innovationen und Entwicklungen in gesellschafts-, sozial- und bildungspolitischen Belangen. In Wirklichkeit gibt die ÖVP seit Jahrzehnten die politische Richtung vor, und die SPÖ sah tatenlos bei problematischen Entwicklungen zu (das Auseinanderdriften von Arm und Reich, die Zweiklassenmedizin usw.). So gesehen war es eine richtige Wohltat, als Christian Kern im Jahr 2016 die SPÖ übernahm und sich damals glaubwürdig auch bei der eigenen Klientel entschuldigte. Der Start war fulminant und die Stimmung in der SPÖ euphorisch – im Gegensatz zu jetzt -, und die Meinungsumfragen sahen die Kern-SPÖ weit vor ÖVP und FPÖ.

Was dann aber rasch folgte, waren wieder eine Reihe von realpolitischen Enttäuschungen für typische SPÖ-Wähler, die sich auch bei der Wahl 2017 auswirkten: Sechs von zehn Arbeitern wählten die FPÖ. Von der Rhetorik über "soziale Gerechtigkeit" und "Chancengleichheit" allein werden die Menschen nämlich nicht satt. Vor und während der Nationalratswahl 2017 kam es dann noch zu gravierenden strategischen Fehleinschätzungen. Zum Thema Migration und Zuwanderung keine (klare) politische Position anzubieten grenzte an Arroganz und Dilettantismus. Eigentlich wäre nach der Wahl eine selbstkritische Analyse auch mit personellen Konsequenzen indiziert gewesen.

Aber was tat man? Die komplette ehemalige Regierungsmannschaft nahm auf der Oppositionsbank Platz und gerierte sich stellenweise wie eine beleidigte Exilregierung, die nur darauf wartete, bis sie vom Volk wieder ins Amt gehoben wird. Auch in dieser Phase log man sich lieber selber in den Sack und verabsäumte es, wichtige und wahrscheinlich schmerzhafte Entscheidungen herbeizuführen, um die Richtung für die nächsten Jahre vorzugeben.

Mit grünem Anstrich ...

Es hätte ein breiter ideologischer Diskurs begonnen werden können mit der Frage, wie sich die SPÖ wieder dem Proletariat des 21. Jahrhunderts von Arbeitern, Angestellten, ökonomisch Schwachen und Ausgegrenzten, Mindestpensionisten, "kleinen" Beamten, Unternehmern und Bauern zuwenden kann. Stattdessen will ein Teil des Parteiestablishments, dass sich die SPÖ zu einer linksliberalen Partei mit grünem Anstrich entwickeln soll.

Jene, die Letzteres präferieren, sind in der SPÖ zwar in der Minderheit, waren aber auf Funktionärsebene sehr mächtig und gefinkelt. Ob es nun ein kosmischer Zufall oder infame Strategie war, dass knapp eine Woche nach der Wahl von Hans Peter Doskozil zum Vorsitzenden der SPÖ Burgenland Christian Kern mit seiner 360-Grad-Kehrtwende alle düpierte, wird in den Geschichtsbüchern zu lesen sein. Aber spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte jemand schreien müssen: "Ihr seid nackt!"

Aber die SPÖ ist eine strukturkonservative Partei, in der man zwar murrt, aber der Obrigkeit folgt. So fand der Höhepunkt des Festumzuges mit der Kür von Pamela Rendi-Wagner zur Parteivorsitzenden und der Bestellung von Thomas Drozda als Bundesgeschäftsführer statt, die als enge Vertraute von Christian Kern gelten. Beide waren aber führend für die Strategie und letztlich auch für die Niederlage bei den Wahlen mitverantwortlich, und es ist zu befürchten, dass sich die SPÖ weiter von den Interessen ihrer klassischen Wählergruppen entfernt.

... ohne roten Inhalt

Denn mit Max Lercher wurde der einzige Protagonist entfernt, der als Vertreter einer Arbeiterpartei glaubwürdig wirkte und bei der Basis beliebt war. Die Euphorie über diese personellen Wechsel ist selbst unter den Wohlwollenden enden wollend, und ein ganz großer Teil in der SPÖ schüttelt den Kopf über diese Vorgänge. Aber niemand getraut sich wirklich zu benennen, was Sache ist: "Der Kaiser ist nackt, er ist nackt." (Roland Fürst, 28.9.2018)