Brüssel – Die EU-Staats- und Regierungschefs haben sich auf ihrem Gipfeltreffen nach stundenlangem Ringen auf einen Kompromiss im Streit über die Migrationspolitik geeinigt.

  • LAGER IN DRITTSTAATEN
Foto: APA/AFP/FLORENT VERGNES

Ein wesentlicher Punkt in der am Freitagmorgen veröffentlichten Gipfelerklärung sind die Aufnahmelager für Flüchtlinge in Drittstaaten. Konkret lautet die Forderung, ein "Konzept regionaler Ausschiffungsplattformen in enger Zusammenarbeit mit den betreffenden Drittländern sowie dem UNHCR und der IOM zügig auszuloten".

Damit enthält eine Gipfelerklärung erstmals das Ziel zur Schaffung von Flüchtlingszentren in Staaten außerhalb der EU. Flüchtlinge sollen künftig im Mittelmeer abgefangen und in den sogenannte "Ausschiffungsplattformen" nach Nordafrika zurückgebracht werden. Im Gespräch sollen Länder wie Libyen, Tunesien, Marokko oder Ägypten sein.

Rechtlich wäre es nicht so einfach, solche Lager in einem nordafrikanischen Staat zu betreiben. Nicht nur muss die dortige Regierung zustimmen, was vor allem bei Libyen schwierig ist. Es gilt auch alle internationalen Vereinbarungen einzuhalten, nach denen Asylsuchenden ein faires individuelles Verfahren zu garantieren ist.

UNHCR und IOM stellen allerdings Bedingungen: Etwa muss die Lebensrettung auf See Priorität genießen und das Recht auf Asyl gewahrt bleiben. Die Zentren sollen staatlich betrieben sein und Unterkunft, Verpflegung und notfalls auch psychologische Betreuung bereitstellen. Die Menschenrechte – darunter das Verbot, in Staaten zurückzuschicken, in denen Folter und Menschenrechtsverletzungen drohen – müssen beachtet werden.

  • FREIWILLIGE EU-ZENTREN

Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: AP Photo / Emilio Morenatt

Auf freiwilliger Basis sollen zudem gemeinsame Asylzentren innerhalb der EU geschaffen werden. In diesen – "auf rein freiwilliger Basis eingerichteten" – Zentren sollen "gerettete Personen" aufgenommen werden, um im Anschluss darüber zu entscheiden, ob die Menschen eine Chance auf ein Asylverfahren haben oder "irreguläre Migranten" sind, die zurück in ihr Herkunftsland müssen.

In der Gipfelerklärung ist in diesem Zusammenhang von einer "raschen und gesicherten Abfertigung" die Rede. Auf diejenigen, "die Anspruch auf internationalen Schutz haben", soll "der Grundsatz der Solidarität" angewandt werden – sie könnten also auf andere Mitgliedsstaaten verteilt werden. Jedoch blieb unklar, welche Länder solche Zentren einrichten oder einer Verteilung zustimmen würden.

  • WEITERZUG VON ASYLWERBERN

Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: AP / geert vanden wijngaert

Im Fall von Asylwerbern, die sich zuerst in einem EU-Land registrieren, dann aber in ein anderes Land weiterziehen, bleibt die Gipfelerklärung erneut vage. Diese sogenannte "Sekundärmigration", die zu einem offenen Konflikt zwischen den deutschen Schwesterparteien CDU und CSU geführt hatte, drohe "die Integrität des gemeinsamen europäischen Asylsystems und des Schengen-Besitzstands zu gefährden". Die Mitgliedstaaten sollen deshalb "alle erforderlichen internen Rechtsetzungs- und Verwaltungsmaßnahmen gegen diese Migrationsbewegungen treffen".

Man müsse in diesen Fällen für Ordnung und Steuerung sorgen, sagte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Asylwerber hätten nicht das Recht, sich ein Land der EU für den Antrag auszusuchen. Gleichzeitig bedürfe es der Solidarität mit den Ankunftsländern. Zur umstrittenen Frage bilateraler Abkommen zur Rücknahme von Flüchtlingen, die Merkel der CSU zu Entschärfung des Konflikts in Aussicht gestellt hatte, sagte sie vorerst nichts. Laut Angaben von Diplomaten hat sie aber mit bis zu zehn EU-Staaten vereinbart, dass man dieses Problem über "bilaterale und trilaterale Abkommen" lösen kann.

Der Vize-Chef der CSU-Landesgruppe, Hans Michelbach, wertete die Ergebnisse des Gipfels als "positives Signal". Eine Sprecherin des Innenministeriums gab bekannt, dass Innenminister Horst Seehofer den Gipfel "nicht anhand von Pressemitteilungen und Abschlusserklärungen" bewerten, sondern ein Gespräch mit Merkel abwarten wolle.

  • VERSTÄRKTER SCHUTZ DER AUSSENGRENZEN

Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: reuters / DARRIN ZAMMIT LUPI

Die Staats- und Regierungschefs einigten sich auch auf einen verstärkten Schutz der Außengrenzen. In die Gipfelerklärung aufgenommen wurde auch ein von Österreich unterstützter Vorschlag Maltas, wonach Schiffe von NGOs und Hilfsorganisationen, die im Mittelmeer unterwegs sind, um Flüchtlinge aus Seenot zu retten, künftig aus den libyschen Küstenregionen verbannt werden sollen. Bei Verstößen soll es Maßnahmen geben.

Italien hatte zuvor mit einer Blockade der Gipfelerklärung gedroht, falls es in der Frage der Flüchtlingsverteilung nicht zu Taten komme. Der Ansatz der Freiwilligkeit war der kleinste gemeinsame Nenner, nachdem eine Reform des Dublin-Verfahrens, wonach das Ersteinreiseland für Registrierung und Asylverfahren von Migranten zuständig ist, derzeit keine Chance auf Umsetzung hat.

Merkel zeigte sich nach der Einigung optimistisch und zuversichtlich. Man hätte zwar "viel zu tun" gehabt, "die verschiedenen Sichtweisen zu überbrücken – die gute Botschaft ist, dass wir einen gemeinsamen Text verabschiedet haben".

Merkel betont "Partnerschaft mit Afrika"

Im Zusammenhang mit den geplanten Flüchtlingszentren außerhalb der EU betonte Merkel, dass es wichtig sei, diese Plattformen in Zusammenarbeit mit dem Uno-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR, der International Migration Organisation (IOM) und den betroffenen Staaten in Afrika zu errichten. "Wir wollen in Partnerschaft mit Afrika arbeiten. Nur so werden wir wirklich eine Win-win-Situation erzeugen." Bei der Einrichtung dieser Zentren müsse darüber hinaus internationales Recht eingehalten werden.

Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel betonte die Zusammenarbeit mit IOM und UNHCR bei den geplanten Flüchtlingszentren außerhalb der EU.

Zwecks Stärkung des Außengrenzschutzes soll die EU-Grenzschutzagentur Frontex bereits bis 2020 deutlich finanziell und personell aufgestockt werden. Daneben haben sich die EU-Staats- und Regierungschefs auch auf die Auszahlung der zweiten Tranche an die Türkei geeinigt, die für einen Flüchtlingsdeal mit der EU zwei mal drei Milliarden Euro erhält. Für Afrika soll es zudem mehr Geld geben, der EU-Treuhandfonds für Afrika wird laut Merkel aufgestockt.

Kurz: Österreich wird sich nicht an Verteilung beteiligen

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) berichtete von einer "langen und harten Diskussion". Es gebe noch immer sehr unterschiedliche Zugänge zur Migrationspolitik. Kurz bestätigte auch eine Einigung auf freiwillige Flüchtlingszentren und Flüchtlingsverteilung innerhalb der EU. Wenn Staaten wie Italien und Griechenland dies möchten, könnten sie "geschlossene Zentren" errichten. "Es gibt nach wie vor keine Einigung auf verpflichtende Quoten", sagte der Kanzler.

Kanzler Sebastian Kurz bestätigte eine Einigung auf freiwillige Flüchtlingszentren und Flüchtlingsverteilung innerhalb der EU.
ORF

Kurz machte klar, dass sich Österreich nicht an der Verteilung in der EU beteiligen wolle. Österreich habe schon überproportional viele Menschen aufgenommen. Es gehe darum, den Zustrom zu reduzieren, sagte er. Österreich habe "deutlich mehr aufgenommen als andere Staaten".

Er sei froh, dass jetzt der Fokus auf dem Außengrenzschutz liege. Es gebe auch eine Bereitschaft, stärker mit der libyschen Küstenwache zusammenzuarbeiten. Die Visegrád-Staaten sowie Dänemark, die Niederlande, Bulgarien und Österreich hätten ein stärkeres Aktivwerden an der Außengrenze gefordert.

Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte sprach nach der Marathonsitzung von einer echten Einigung der 28 EU-Staaten. Auch die Osteuropäer und die südlichen Ankunftsländer seien dabei. Die Verhandlungen seien in allen Aspekten "außergewöhnlich schwierig" und komplex gewesen. Die Gipfeleinigung müsse nun erst ausgearbeitet werden.

Vorbild Türkei-Deal

Mit Ländern außerhalb Europas sollen ähnliche Absprachen wie mit der Türkei getroffen werden. Die freiwilligen Flüchtlingszentren in Europa sollen dazu beitragen, Asylverfahren schneller abzuwickeln. Das Problem sei nicht gelöst, die EU habe nur einen Schritt geschafft, sagte Rutte. Insbesondere die freiwillige Verteilung in der EU müsse noch ausgearbeitet werden.

Zufrieden zeigte sich Italiens Regierungschef Giuseppe Conte, der den EU-Gipfel mit seiner Blockadehaltung fast zum Scheitern gebracht hatte. "Italien ist nicht länger allein", sagte Conte. (APA, Reuters, red, 29.6.2018)