Fast genau zwei Jahre nach der Volksabstimmung über den EU-Austritt Großbritanniens traf sich also eine lose Gruppe von Staats- und Regierungschefs der EU zu einem Sondergipfel in Brüssel. Wie im Juni 2016 steckt die Gemeinschaft in einer fundamentalen Sinnkrise. Thema diesmal: Probleme der Migration.

Wieder einmal. Nichts Besonderes, möchte man gerne sagen, weil das etwas Beruhigendes hätte. Ein Blick in die Geschichte zeige doch, dass es oft schlimm gekriselt hat. Aber das wurde stets mit neuem Elan überwunden.

Symbol für Zerfall der EU

Im Juni 2018 sieht die Lage nicht danach aus, als könnte sich die sichtbare Zerrissenheit der Staatengemeinschaft irgendwie schon wieder einrenken. Warum trafen sich gerade diese 16 Regierungschefs, ohne Portugal, baltische Staaten, Visegrád, Zypern? Diese Formation ist in keinem EU-Vertrag vorgesehen. Es ist Symbol dafür, dass ein weiterer Zerfall der EU nicht mehr ausgeschlossen ist.

Vor allem aber liegt das daran, dass erstmals das wirtschaftlich und auch politisch mächtigste EU-Land selber ins Zentrum von Streit und Spaltung über das Auftreten und Handeln in Europa gerückt ist: Deutschland.

Kanzlerin Angela Merkel wirkt im 13. Amtsjahr nicht nur müde, sondern schwer angeschlagen. Der Autoritätsverlust, den sie durch die Auseinandersetzungen mit dem Koalitionspartner CSU in ihrem eigenen Land bereits erlitten hat, schlägt nun auch voll auf die europäische Ebene durch.

Brexit wird Schaden anrichten

Eine Kanzlerin, die zu Hause den Laden nicht im Griff hat und vor dem Beginn eines EU-Gipfels ohne Not verkündet, es werde sowieso "keine Entscheidungen geben", wird auch von den Bürgern als mut- und ratlos, als entscheidungsschwach wahrgenommen – ohne Inspiration.

Diese fundamentale Krise hat auch damit zu tun, dass die politischen Erschütterungen des Jahres 2016, die die EU bedrohen, nicht überwunden sind – nicht einmal ansatzweise. Der Brexit, der den Briten wie auch den restlichen EU-Bürgern in Europa schaden wird, ist noch lange nicht gütlich ausgehandelt. Es könnte im Frühjahr 2019 zum harten Bruch kommen.

2016 war auch das Jahr, in dem Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt wurde, Tayyip Erdoğan in der Türkei die totale Macht übernahm und seitdem Repression ausübt. Und in dem Europas extreme Rechtspopulisten rund um Marine Le Pen vom Front National und Lega-Chef Matteo Salvini EU und Euro den Kampf ansagten. Die FPÖ war (und ist) dabei mit von der Partie.

Salvini statt Le Pen

Zwar ist Le Pen nicht französische Staatspräsidentin geworden, aber die neue italienische Regierung mit Salvini setzt den Kurs fort: Chaos und Zerschlagung "dieser" vertieften EU. Mit den USA schaukeln sich die Sanktionen weiter auf. Mit Erdoğan liegt die EU im Dauerclinch.

Staatspräsident an der Seine wurde statt Le Pen doch Emmanuel Macron, einer, der so stark europaorientiert ist wie keiner seit François Mitterrand. Er drängt die Partner zu Reformen bei der Vertiefung der Eurozone wie auch beim Ausbau der Union zu einem "Europa, das schützt", sprich zu umfassenden Lösungen der Migrationsprobleme. Ungarn, Polen, nun Rom stellen sich dem vernünftigen Weiterbau entgegen. Niederländer, Luxemburger, Belgier und andere unterstützen ihn. Da hätte es gerade jetzt ein starkes frisches Deutschland gebraucht, wie bei der Fußball-WM. Aber die deutsche Regierung lässt aus, Merkel wirkt gelähmt beim Abschluss vor dem Tor. (Thomas Mayer, 24.6.2018)