An der Universität für Musik und darstellende Kunst läuft derzeit ein Projekt, das sich mit dem Verfall digitaler und somit vermeintlich unsterblicher Musik beschäftigt.

Foto: APA / dpa / Daniel Bockwoldt

Das Backup ist ein Märchen, sagen Experten. Kopiefehler, Defekte und Komprimierung im virtuellen Raum können das Original unwiederbringlich verändern.

Illustration: Wolfram Leitner

Mit jeder Kopie geht vom Original etwas verloren – insbesondere in der Kunst kann man davon ein Lied singen. So befand der Kulturphilosoph Walter Benjamin bereits 1936: "Was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmert, das ist seine Aura."

Diese Reproduktion läuft im digitalen Zeitalter, in dem Informationen im Sekundentakt vervielfältigt werden, erst recht auf Hochtouren. Anstatt ein Kunstwerk wie ein Musikstück auf ewig in der Cloud zu bewahren, multipliziert die Verbreitung somit nur den Verfall des Originals: "Je länger eine digitale Datei gespeichert wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass man sie bald nicht mehr lesen kann", sagt Thomas Grill von der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien.

Der Musikwissenschafter leitet derzeit ein Projekt, das sich mit dem Verfall digitaler und somit vermeintlich unsterblicher Musik beschäftigt und durch das PEEK-Programm für künstlerische Forschung des Wissenschaftsfonds FWF gefördert wird. "Wir stellen uns die Frage, was strukturell wie auch ästhetisch mit digital gespeicherter Musik über einen längeren Zeitraum passiert."

Schließlich schwebt keine Datei im luftleeren Raum, sondern existiert ebenfalls in der physischen Realität irgendwo in der Welt auf einem Datenträger und ist deshalb wie alles Irdische endlich. Auch Musik hat deshalb ein Ablaufdatum, wie Grill und seine Kollegen mit dem Projekttitel "Rotting Sounds" unterstreichen.

Ständige Reproduktion

Hier versammeln sich zahlreiche Fachleute verschiedener Länder aus den Bereichen Wissenschaft und Kunst, um dieses Phänomen aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten: In Wien etwa sind auch der Klangforscher Till Bovermann von der Universität für angewandte Kunst beteiligt sowie Almut Schilling von der Akademie der bildenden Künste – eine Expertin für die Konservierung und Restaurierung digitaler Kunst.

Laut Grill ist die Archivierung von digitalen Kunstwerken im Vergleich zu greifbaren Werken vor allem aus ästhetischer Sicht ein noch erheblich sensiblerer Prozess infolge der ständigen Reproduktion. Auch Datenträger können zerstört werden – bei manchem Defekt sind die Informationen unwiederbringlich verloren. Übertragungsfehler passieren regelmäßig, die das Ursprungswerk sofort auf ewig verändern.

Häufig sind dafür nicht bloß technische Defekte verantwortlich – auch der Faktor Mensch spielt eine wichtige Rolle: "Das Versprechen der verlustfreien Kopie durch die Erhaltung in Form von Backups ist ein Märchen. Es gibt immer Handlingfehler, händische Eingriffe und Kopierprobleme – etwa durch falsche Namensvergabe."

Wenn jedoch ein Musikstück etwa mit Stille beginnt und aufhört, aber in einer Übertragung falsch geschnitten wird, hat das gravierende ästhetische Folgen. Kratzer auf Tonträgern fördern Informationsverluste, erzeugen Abspielfehler oder andere Geräusche bei der Wiedergabe. Ähnliche Effekte sind auch in der rein digitalen Sphäre zu betrachten: Zum Transport im virtuellen Raum wird Musik immer wieder komprimiert, was den ursprünglichen Klang fortschreitend verändert.

Das Verschwinden manches digitalen Kunstwerks ist auch denkbar durch einen kulturellen Gedächtnisverlust: Nämlich wenn Datensätze zwar erhalten bleiben, aber späteren Generationen das notwendige Know-how fehlt, um alte Datenformate abzuspielen oder frühere Datenträger zu bedienen. Und ist Musik, die keiner hören kann, noch existent?

Mechanismen des Verfalls

Solche Fragen sollen bei dieser wissenschaftlichen Auseinandersetzung im Zentrum stehen. Denn den Forschern geht es weniger darum, technische Lösungen zu erarbeiten, um den digitalen Verfall aufzuhalten. Das sei laut Grill utopisch: "Der Verfall geht einher mit der Verbreitung und lässt sich nicht vermeiden, auch wenn er bei diesen Kunstwerken nicht offensichtlich ist."

Was dieses schwer zu Greifende ausmacht, will Grill in die Mangel nehmen, um künstlerische Praktiken zu entwickeln, die den Verfallsprozess bereits bei der Konzeption miteinbeziehen und somit mit dem Werk verknüpfen. Grill: "Wenn wir die Mechanismen des Verfalls verstanden haben, können wir uns Gedanken über künstlerische Strategien machen, die den unausweichlichen Verfall nicht als störend betrachten, sondern nutzbar machen und positiv in die Kunst integrieren."

In der bildenden Kunst habe das bereits Tradition: Joseph Beuys oder Dieter Roth haben immer wieder versucht, das Phänomen des Verfalls bei der Gestaltung zu berücksichtigen. Im digitalen Bereich sei das aber bisher weitgehend zur Seite geschoben worden.

Dass man sich in den inzwischen tonangebenden Medien damit noch wenig auseinandergesetzt habe, erklärt Grill auch mit einer gesamtgesellschaftlichen Geisteshaltung: "In Europa hat das Phänomen des Verfalls im Gegensatz zu anderen Kulturen einen grundsätzlich negativen Beigeschmack, sodass wir ständig versuchen, Dinge am Leben zu erhalten. Wir können schwer akzeptieren, dass Dinge verschwinden, obwohl wir eigentlich mit diesem ganz natürlichen Phänomen umgehen können sollten." (Johannes Lau, 10.5.2018)