Italien oder Österreich? Deutsch- und ladinischsprachige Südtiroler sollen künftig beide Pässe besitzen können – zumindest nach vorläufigen Plänen der Wiener Regierung.

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Als Chirurg in Kriegsgebieten geht Alberto Giudiceandrea keiner alltäglichen Beschäftigung nach. Der 61-Jährige wurde in Brixen geboren, wo sich sein aus Kalabrien stammender Vater niedergelassen hatte. Als Altphilologe mit großem Respekt für die Präzision deutscher Grammatik schickte er seine Söhne in die deutschsprachige Volksschule der Südtiroler Bischofsstadt, wo sie in den 1950er-Jahren als Exoten galten. "Mit uns sprach der Vater Deutsch – mit kalabresischem Akzent", lächelt Alberto, der nach der Matura in Wien Medizin studierte. Seine Ausbildung zum Chirurgen absolvierte er dann in London.

So ungewöhnlich wie seine Familiengeschichte ist auch sein Beruf als Chirurg. Seit vielen Jahren arbeitet er in den Krisengebieten der Erde, mal für Ärzte ohne Grenzen, mal für das Rote Kreuz. Kriegsschauplätze wie Darfur, Syrien oder Jemen sind ihm ebenso vertraut wie die heimatlichen Dolomiten. Zwischendurch kehrt er immer wieder für ein paar Monate in seine Südtiroler Heimat zurück.

Im viersprachigen Mediziner löst die Aufregung um den die italienisch-österreichische Doppelstaatsbürgerschaft für deutsch- und ladinischsprachige Südtiroler Unbehagen aus. "Dieses Vorhaben der Wiener Regierung löst keine Probleme, sondern schafft neue", gibt sich der Arzt überzeugt. "Uns Südtiroler hat das Trauma der Option Hitler oder Mussolini über Jahrzehnte belastet. Jetzt wird erneut versucht, die Bevölkerung in zwei Lager zu spalten: die "wahren Patrioten" im einen und die "Passgegner" im anderen. Ich bestreite nicht, dass es Leute gibt, denen ein solches Anliegen wichtig ist. Ich gehöre jedenfalls nicht dazu. Auch wenn ich könnte, würde ich nicht darum ansuchen."

"Unangebrachte Initiative"

In der Familie steht Alberto nicht allein da. Sein in Brixen lebender Bruder Federico ist Präsident des Südtiroler Unternehmerverbandes, für revolutionäre Innovationen in der Holzindustrie wurde er in Stockholm vom schwedischen König mit dem renommierten Marcus-Wallenberg-Preis ausgezeichnet. Der Kunstsammler und Escher-Spezialist: "Jede Initiative, die zur Spaltung der Bevölkerung beiträgt, ist unangebracht. Wohin das führt, kann man am Beispiel Katalonien verfolgen. Für mich persönlich macht es wenig Sinn, Menschen nach Ahnen und Herkunft zu katalogisieren."

Ganz ähnlich denkt auch sein Cousin Lucio, der in Bozen als Journalist beim Sender RAI arbeitet. Als Autor eines Buches über die "Heimatlosigkeit der Italiener in Südtirol" und Mitverfasser eines weiteren über die "Kunst des Zusammenlebens" kennt er die Allergien und Empfindlichkeiten der drei Sprachgruppen wie kaum ein anderer. In Sachen Doppelpass stört ihn das widersprüchliche Verhalten der Südtiroler Volkspartei, die die "europäische Dimension" des Anliegens unterstreicht: "Diese wäre nur mit einem europäischen Pass erreichbar – nicht aber mit einer Ansammlung mehrerer Pässe. Die SVP lässt sich von den Rechtsparteien treiben, wird damit aber bei den Wahlen kaum Stimmen gewinnen – wohl aber die vieler Italiener verlieren, die in den letzten Jahren mit Sympathie auf die Sammelpartei geblickt haben."

Gegensätzliche Anschauungen

Gelebte Mehrsprachigkeit gehört für die Familie Giudiceandrea zur Selbstverständlichkeit. Ob auf Deutsch, Italienisch oder im Südtiroler Dialekt – ihre Sprachzugehörigkeit scheint nie durch. Ihr Weltbild ist meilenweit entfernt von den ethnisch geprägten Visionen der Bewegung Süd-Tiroler Freiheit, die der ÖVP-FPÖ-Regierung in Wien einen fertigen Gesetzentwurf zum Doppelpass überreicht hat. Die Rechtspartei betreibt permanent Deutschtümelei und vergewaltigt dabei auch die Rechtschreibung: Süd-Tirol schreibt sie grundsätzlich mit – patriotisch gemeintem – Bindestrich. Auf ihrer Website bietet sie Aufkleber mit Parolen wie "Süd-Tirol ist nicht Italien" oder "Freiheit für Süd-Tirol" an. Ihr Landtagsabgeordneter Sven Knoll trägt gerne eine an die k.u.k. Monarchie erinnernde Uniformjacke.

Nach Überzeugung der Proponenten und der österreichischen Bundesregierung soll die Doppelstaatsbürgerschaft deutsch- und ladinischsprachigen Südtirolern vorbehalten sein. Doch die dafür nötige und mit dem Unwort "Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung" bezeichnete Feststellung der Muttersprache folgt in Südtirol bizarren Regeln: Denn nach einem 2001 erfolgten Einspruch von Datenschützern gilt die Erklärung als streng geheim. Sie wird in persönlichen Kuverts am Bozner Landesgericht aufbewahrt und darf nur vom Unterzeichner selbst eingesehen oder angefordert werden.

"Zweckerklärungen"

"Es gibt mit Sicherheit mehrere Tausend legitime ‚Zweckerklärungen‘, auf denen sich Italiener, Ladiner, EU-Bürger oder Einwanderer als deutschsprachig ausgegeben haben", versichert im Gespräch mit dem STANDARD der Jurist Guido Denicolò. Er befasst sich seit Jahren mit ethnischem Proporz und Sprachgruppenerhebung. "Dadurch steigen die Chancen auf Besetzung einer öffentlichen Stelle", für die ein Zweisprachigkeitsnachweis erbracht werden muss. Da aber bei allen öffentlichen Ausschreibungen das Prinzip der freien Sprachwahl gilt, kann jeder Bewerber seine Prüfung durchaus auch auf Italienisch ablegen.

Die Erklärung der Sprachgruppenzugehörigkeit kann überdies bei jeder Volkszählung ausgewechselt oder auch verweigert werden. Denicolòs Fazit: "Die Sprachgruppenerklärung ist ein absolut untaugliches Mittel zur Feststellung der effektiven Sprachzugehörigkeit." Darauf hat auch Südtirols Landeshauptmann Arno Kompatscher verwiesen: "Es darf keine Abstimmung werden, bei der entschieden wird, wer ein guter Patriot ist." Und auch der in Innsbruck lehrende Südtiroler Politikwissenschafter Günther Pallaver sieht die Doppelpass-Bestrebungen skeptisch: "Ich gehe davon aus, dass die Angelegenheit versanden wird." (Gerhard Mumelter aus Bozen, 20.1.2017)