"Cumhuriyet"-Prozess: Proteste vor dem Gericht .

Foto: APA/AFP/BULENT KILIC

Wien – Der Zeitpunkt war nur scheinbar gut gewählt. An den Weihnachtstagen 25. und 26. Dezember wollte das Strafgericht in Istanbul die Fälle führender Journalisten der unabhängigen Tageszeitung "Cumhuriyet" abhandeln. Die Justiz hatte offenbar damit spekuliert, dass wegen der christlichen Feiertage nur sehr wenige ausländische Medienmenschen zur Prozessbeobachtung kommen würden. Das Gegenteil war der Fall. Darüber hinaus lief der Prozess bei der Verteidigungsrede des bekannten, investigativen Journalisten Ahmet Şık aus dem Ruder.

Şık hatte in dieser Rede mit einer Anklage gegen die jetzige Regierung und einer Analyse der heutigen türkischen Gesellschaft begonnen. Nach knapp zwei Minuten unterbrach der Richter den Angeklagten und verwies ihn des Gerichtssaales. Gefängniswärter führten ihn hinaus. Unter lautstarken Protesten verlangte das Publikum seine Rückkehr in den Verhandlungsraum. Vergeblich. Der Prozess geriet zur Farce und wurde auf 9. März vertagt.

Alle, sowohl die regierungstreuen Justizbeamten als auch die Zuhörerinnen und Zuhörer, hatten noch Ahmed Şıks pointierte und sorgsam ausgearbeiteten Worte in Kopf, alle hatten still seiner Rede gelauscht, in der er das türkische Justizwesen anprangerte, von Meinungsmanipulation und Diktatur sprach und exemplarisch analysierte.

Hier Auszüge im Wortlaut:

Am 23. November 2017 legte der Präsident des Obersten Berufungsgerichtshofs, İsmail Rüştü Cirit, bemerkenswerte Zahlen vor. Er verkündete, dass nach den Strafregistern 2016 in einem Land mit 80 Millionen Einwohnern etwa 6,9 Millionen Verdächtige seien. Cirit sagte: "Das zeigt, dass in der Türkei (…) acht von 100 Menschen verdächtig sind, also ziemlich viel. Bei all diesen Verdächtigen werden Anfangsuntersuchungen durchgeführt."

Ahmet Şık relativiert, nimmt Kinder und Jugendliche bis zum 15. Lebensalter, Menschen mit mentalen Beeinträchtigungen, Menschen mit physischen Behinderungen sowie Bettlägerige heraus und kommt so auf 50 Millionen Menschen, die in der heutigen Türkei für Verbrechen verantwortlich gemacht werden könnten. Wenn es also tatsächlich sieben Millionen Verdächtige gäbe, dann sei jeder Siebente auf der Straße ein Verdächtiger.

"Die derzeitige Regierung behandelt und sieht in jedem Bürger, der nicht mit ihr übereinstimmt, einen Terroristen. Es gibt ein Rechtssystem unter der Kontrolle der aktuellen Regierung, die alle Verdächtigungen aufgrund von Terrorismus in haarsträubende Klagen umwandelt." Es gebe, so Şık, Medien, die Fakten hintanhalten und so mitverantwortliche Komplizen seien bei der Zerstörung einer gemeinsamen Zukunft. Und es gebe "eine schweigende Mehrheit, die sich in ein Netz der Stille zurückgezogen hat, während sich alles vor ihren Augen abspielt. Diese Menschen haben Angst um ihr Wohlergehen und davor, dass ihr komfortables Leben ein Ende haben könnte", schließt Ahmet Şık verbittert diesen Gedanken ab.

Verhaftung vor einem Jahr

Ahmet Şık war fast auf den Tag genau vor einem Jahr frühmorgens in seiner Wohnung verhaftet worden. Warum, das wurde ihm nicht erklärt. Schließlich stellte sich heraus, er war diffamiert worden – von einem regierungstreuen ehemaligen Kollegen, der nun für die Justiz die schmutzigen Arbeiten erledigt. Er schreibt einen diffamierenden, unwahren Artikel, die Staatsanwaltschaft bedient sich dieses Artikels als Beweismittel – und schon stehen Sicherheitsbeamte mit einem Haftbefehl und Handschellen vor der Tür. So einfach und so schnell geht das.

Ein Jahr in einem türkischen Gefängnis zeichnet Menschen und geht nicht spurlos an diesen vorüber. Die einen zerbrechen und ziehen sich in die innere Emigration zurück. So Inan Kizilkaya, einst Chefredakteur der kurdischen Minderheitenzeitung "Özgür Gündem". Er verweigert inzwischen jede Teilnahme an seinen Gerichtsverfahren, will die Erniedrigungen durch Staatsanwalt und Richter nicht mehr ertragen.

Ahmet Şık hingegen nutzt noch einmal die "Gunst der Stunde", um seine Kritik an der Entdemokratisierung des Landes öffentlich zu machen. Mag sein, dass dies zum letzten Mal für lange Zeit sein wird. Seine Worte, kurz bevor er unterbrochen und abgeführt wurde:

"Sogar unsere unvollkommene und unreife Demokratie wurde aufgehoben. Diejenigen, die das Grab der ohnedies kaum existierenden Rechtsstaatlichkeit ausgehoben haben, machen jetzt ohne zu zögern mit, sie zu begraben. Was wir in den letzten Monaten in den Gefängnissen und Gerichten durchgemacht haben, ist nichts Geringeres als ein politischer Angriff. Anders gesagt, das, was wir erleben, ist ein Spiel, in dem wir so tun, als existierte noch die Rechtsstaatlichkeit in diesem Land. Die Untersuchungsberichte sind die Beweise für diese politischen Machenschaften. Die Untersuchungsakte sind voller Beispiele, wie die Rechtsstaatlichkeit massakriert wurde, und voll solcher Beispiele, wie Vertreter des Rechts jeweils die Regeln biegen."

Am 9. März 2018 also wird der Prozess weitergeführt. Das Ende der Pressefreiheit ist längst angesagt. (Rubina Möhring, 27.12.2017)