Wenn ich erzähle, dass ich als Ozeanografin an der Universität Innsbruck arbeite und Veränderungen des Meeresspiegels erforsche, ernte ich oft erstaunte Blicke. In Österreich? In Tirol? Meist antworte ich dann scherzhaft, "naja, als ich die neuesten Prognosen zum Anstieg des Meeresspiegels gesehen habe, bin ich von der Küste sofort in die Alpen geflüchtet". Dabei sind die fragenden Blicke durchaus berechtigt. Was macht eine Ozeanografin in einem Land, das zu einem großen Teil aus Bergregionen besteht und über keinerlei Zugang zum Meer verfügt?

Die Antwort gibt Einblicke in das heutige Leben einer Geowissenschafterin. Während in der Vorstellung vieler Menschen Ozeanografen sehr viel Zeit auf See verbringen und Glaziologen Expeditionen ins ewige Eis unternehmen, findet heutzutage ein großer Teil unserer Arbeit tatsächlich am Schreibtisch statt. Die Grundlage unserer und speziell meiner Forschung bilden nämlich Messdaten, die für jedermann frei zugänglich sind sowie Daten aus Modellsimulationen. Möchte man wie ich etwas über die Veränderung des Meeresspiegels seit dem 20. Jahrhundert erfahren, zieht man hauptsächlich zwei sehr unterschiedliche Datenquellen zu Rate: Satelliten und sogenannte Tidepegel. Kurze Zeitreihen auf der einen und lange Zeitreihen auf der anderen Seite. Globale und punktuelle Beobachtungen. Absoluter und relativer Meeresspiegel. Aber was genau ist damit gemeint?

Satelliten tasten die Meeresoberfläche ab

Seit 1992 wird der Meeresspiegel von Satelliten aus dem All gemessen. Mithilfe von Radarsignalen wird die Meeresoberfläche ständig großflächig abgetastet, und das weltweit. Dadurch ist es möglich, an jedem Punkt der Meeresoberfläche den absoluten Meeresspiegel, also den Meeresspiegel im Verhältnis zum Erdmittelpunkt, zu bestimmen. Aus den so gemessenen lokalen Veränderungen können durch Mittelung über die gesamte Meeresoberfläche zusätzlich die Veränderungen im globalen Meeresspiegel ermittelt werden. Beide Ergebnisse sind hier dargestellt:

ADer Anstieg des globalen Meeresspiegels und regionale Veränderungen.
Grafik: Kristin Richter

Die Karte zeigt den Meeresspiegelanstieg im Zeitraum 1993 bis 2015 in den verschiedenen Regionen. Sofort fällt auf, dass es regional große Unterschiede gibt. Während der Meeresspiegel beispielsweise im westlichen Pazifik um bis zu sieben Millimeter im Jahr stieg, betrug der Anstieg im östlichen Pazifik "nur" zwei Millimeter im Jahr oder weniger.

Badewannenphänomen

Es ist ein wenig wie in der Badewanne mit dem tröpfelnden Wasserhahn: Wasser kann hin und her schwappen und wenn man sich nur auf eine Seite der Wanne konzentriert, ist schwer zu erkennen, dass das Wasser in der gesamten Wanne langsam mehr wird. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Meeresspiegel: erst durch die Mittelung über die gesamte Meeresoberfläche heben sich die regionalen Unterschiede auf und es offenbart sich ein stetiger Anstieg des globalen Meeresspiegels um etwa sieben Zentimeter seit den 1990er-Jahren (circa drei Millimeter pro Jahr).

Beobachtungen des Meeresspiegels mithilfe von Satelliten aus dem All liefern uns einen fantastischen Datensatz, der unabdingbar ist, wenn es darum geht, regionale Veränderungen im Meeresspiegel zu beurteilen. Allerdings sind diese Zeitreihen recht kurz, und daher nicht dafür geeignet, Aussagen über längerfristige Veränderungen des Meeresspiegels in der Vergangenheit zu machen. Dazu müssen wir uns einem anderen Datensatz zuwenden.

Messung per Tidepegel

Beobachtungen des Meeresspiegels an sogenannten Tidepegeln reichen vereinzelt bis ins späte 19. Jahrhundert zurück. Bei Tidepegeln handelt es sich um Instrumente, die an der Küste im Erdboden verankert sind und daher den lokalen Meeresspiegel relativ zum Land, auf dem sie sich befinden, messen. Das heißt, sie registrieren die Summe aus dem tatsächliche Heben und Senken der Ozeane – dem absoluten Meeresspiegel – und dem Heben und Senken des Landes, auf dem sie sich befinden. Wir sprechen deswegen vom sogenannten relativen Meeresspiegel. Und der Beitrag vertikaler Landbewegungen kann in der Tat sehr groß ausfallen.

Zum einen können Erdbeben zu abrupten Landbewegungen führen. Zum anderen heben sich die Regionen, die während der letzten Eiszeit von riesigen Eisschilden bedeckt waren – zum Beispiel Skandinavien –, weiterhin langsam an, seit die Last der mächtigen Eisschilde von ihnen gefallen ist. In anderen Regionen wiederum führt die extensive Entnahme von Grundwasser zur Bewässerung zu einer Absenkung der Landoberfläche und damit zu einem scheinbaren Anstieg des lokalen Wasserstandes. Diese vertikalen Landbewegungen verfälschen somit die Messungen des "wahren" Meeresspiegels. Viele Tidepegel wurden in den letzten Jahren deswegen zusätzlich mit GPS-Instrumenten ausgestattet, die vertikale Landbewegungen direkt messen. Je weiter man in die Vergangenheit schauen möchte, desto spärlicher werden diese Messungen jedoch und wir müssen auf Abschätzungen zurückgreifen.

Tidepegel messen den relativen Meeresspiegel an der Küste.
Foto: APA/AFP/INDRANIL MUKHERJEE

Selbst unter Berücksichtigung vertikaler Landbewegungen kann der Verlauf des globalen Meeresspiegels nicht einfach durch die Mittelung über alle verfügbaren Tidepegel ermittelt werden. Denn im Gegensatz zu Satelliten messen Tidepegel den Meeresspiegel naturgemäß "nur" punktuell entlang der Küsten. Besonders dort wird der Wasserstand jedoch stark durch lokale Prozesse wie zum Beispiel Aufstauung durch Wind beeinflusst – ein Prozess, der zu großen Veränderungen im lokalen Meeresspiegel führen kann, auf den globalen Meeresspiegel jedoch keinen Einfluss hat – ähnlich dem Schwappen in der Badewanne. Hinzu kommt, dass es nur eine begrenzte Anzahl dieser Tidepegelstationen gibt, die zusätzlich auch noch unterschiedlich weit in die Vergangenheit zurückreichen und ungleichmäßig verteilt sind: Aus historischen Gründen gibt es eine Vielzahl langer Messreihen entlang der Küsten Nordeuropas, während nur wenige Beobachtungen auf der Südhalbkugel zur Verfügung stehen.

Der globale Meeresspiegel in den letzten 100 Jahren

Man sieht, der Weg zu einer globalen Meeresspiegelkurve für das letzte Jahrhundert ist kein leichter. Mehrere Forschergruppen weltweit haben sich jedoch den vielen Herausforderungen gestellt und den Verlauf des globalen Meeresspiegels basierend auf Tidepegelmessungen rekonstruiert. Sie bedienten sich dabei unterschiedlicher Herangehensweisen. Einige Rekonstruktionen beruhen beispielsweise auf rein statistischen Methoden. Andere Rekonstruktionen ziehen die Satellitenmessungen der letzten 20 Jahre zu Rate, um einen Zusammenhang zwischen dem Meeresspiegel an der Küste (Tidepegel) und auf offener See (Satelliten) herzustellen.

Unter der Annahme, dass dieser Zusammenhang in der Vergangenheit unverändert bestand, kann so der globale Meeresspiegel rekonstruiert werden. Wieder andere Methoden berücksichtigen, dass die physikalischen Prozesse, die zu Veränderungen im Meeresspiegel führen, unterschiedlichen räumlichen Mustern folgen. Beispielsweise verteilt sich das Schmelzwasser schrumpfender Gletscher nicht gleichmäßig in den Weltmeeren sondern folgt einer gewissen räumlichen Verteilung und betrifft somit jeden Tidepegel unterschiedlich.

Eine Auswahl der resultierenden Rekonstruktionen ist, zusammen mit Beobachtungen mittels Satelliten, im oberen Teil der nächsten Abbildung dargestellt und eine Gemeinsamkeit ist sofort erkennbar: Der globale Meeresspiegel steigt seit den letzten 100 Jahren kontinuierlich an, und zwar, je nach Kurve, mit einer Rate von 1,2 bis 1,9 Millimeter pro Jahr im 20. Jahrhundert. Die große Spanne ergibt sich aus der Vielfalt der Rekonstruktionen und spiegelt sich auch in der Geschwindigkeit des Anstiegs, der sogenannten Anstiegsrate, wieder (unterer Teil der Abbildung). 

Verlauf des globalen Meeresspiegels seit 1900 und zugehörige Anstiegsraten.
Grafik: Kristin Richter

Änderungen im Meeresspiegel

Die Anstiegsrate gibt in diesem Fall Auskunft darüber, wie stark sich der Meeresspiegel in einem Zeitraum von 20 Jahren verändert. In der Größe der Anstiegsraten gibt es durchaus Abweichungen, in ihrem Verlauf stimmen diese jedoch überein. Und bis auf eine Ausnahme gibt es noch eine weitere wichtige Gemeinsamkeit: der Anstieg in den letzten zwei Jahrzehnten (etwa drei Millimeter pro Jahr) ist der höchste im Verlauf der jeweiligen Kurven. Auch der Vergleich mit den Satellitenmessungen offenbart eine gute Übereinstimmung (schwarzer Punkt in der zweiten Abbildung). Resümee: Den exakten Verlauf des globalen Meeresspiegels über die letzten 100 Jahre werden wir wohl nie erfahren. Dass es einen Anstieg gibt, ist jedoch klar. Genauso wie die Tatsache, dass sich dieser Anstieg fortsetzen und möglicherweise beschleunigen wird. Dazu jedoch ein andermal mehr.

Es gibt übrigens noch eine weitere Möglichkeit, den Verlauf des Meeresspiegels in der Vergangenheit zu rekonstruieren: indem man sich die Ursachen genauer anschaut. Die zwei wichtigsten Gründe für den globalen Meeresspiegelanstieg im 20. Jahrhundert sind zu etwa gleichen Teilen die Erwärmung und die damit verbundene Ausdehnung des Meerwassers sowie das weltweite Abschmelzen von Gletschern. Gerade auf dem Gebiet der Gletscher wird in Innsbruck intensiv geforscht. Und plötzlich ist es überhaupt nicht mehr so abwegig, in Tirol die Veränderungen des Meeresspiegels zu untersuchen. (Kristin Richter, 13.12.2017)

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