Er habe nicht einen Chef, sondern hundert, so Walser: "Jeder Depp kann über mich schreiben, was er will."

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Geboren 1967 in Hamburg, ist Jakob Augstein Eigner und Chefredakteur der Wochenzeitung "Der Freitag".

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Wien – Hier kommen zwei zusammen, die qua Geburt zusammengehören und einander doch spät gefunden haben: der Schriftsteller Martin Walser und der Publizist Jakob Augstein. Erst nach dem Tod des Spiegel-Gründers Rudolf Augstein 2002 erfuhr Jakob von seiner Mutter, dass der Verstorbene nicht sein leiblicher Vater war. Den traf er 2009 erstmals: "Ich fand, dass du sehr groß bist." – "Und ich fand dich mir ähnlich."

Die frühesten Briefe, die der Begegnung vorausgingen, haben beide heute verlegt oder verloren. Auf Dauer gesichert haben sie hingegen jüngste Treffen. Der eben erschienene Band Das Leben wortwörtlich versammelt 13 Unterhaltungen. Die Leute sollen, so Walser über das Projekt, "das Gefühl haben, sie erfahren etwas, was sie sonst nicht erfahren. Sie können lachen, sie werden unterhalten."

Bestes findet sich gleich am Anfang, wenn der 90-Jährige vom Aufwachsen während des Zweiten Weltkriegs erzählt. Vom an Musik und Büchern interessierten Vater, der wusste: "Hitler bedeutet Krieg." Und von der Mutter, die nach dessen Tod 1938 die Gastwirtschaft allein durch besagten bringen musste. Viel davon ist in den Roman Ein springender Brunnen eingeflossen. Wirtschaftlicher und sozialer Druck können erklären, wie aus Mitläufertum Hitlerdeutschland wurde, so Walser.

Eine Identität geschenkt

Das ist überzeugend, aber für Augstein nicht zufriedenstellend. Dass seine Großmutter aus zweckdienlichen Gründen NSDAP-Mitglied war, enttäuscht ihn. "Natürlich wäre man aus heutiger Sicht glücklicher, wenn die eigene Großmutter im Widerstand gewesen wäre", klagt er. "Das heißt, du möchtest eine Identität geschenkt bekommen, eine hochkorrekte, opportune, nach heutigem Urteil und Geschmack. Und das ohne Anstrengung", erwidert Walser.

"Ach, Jakob" ist eine Wendung, die man häufiger liest, wenn Walser Augstein erklärt, dass die Welt nicht so schwarz-weiß und gut-böse ist, wie der meint. Der Sohn denkt aus dem linken Milieu heraus, der Vater aus der Erfahrung.

Nie würde er trotzdem eine Autobiografie schreiben, sagt Walser. Sie zwänge zu einer "unangenehmen Art von Lüge". "Literatur verklärt die Welt, weil sie so, wie sie besteht, schwer erträglich wäre", heißt es einmal. Zudem sei ohnehin "jeder Roman ein Selbstporträt des Autors zum Zeitpunkt des Schreibens." Also zitiert der gerne als Experte des Scheiterns bezeichnete Autor (seinen Figuren misslinge im Leben etwas, das Wort "gescheitert" findet er unpassend) in seinen Antworten zuweilen aus seinen Büchern.

Engagement nie Pflichtfach des Schriftstellers

Man spricht über die Liebe (Männer lieben, um geliebt zu werden, "während frauliche Liebe absolut sein kann"), frühere Spielsucht, eine Baugrundstücksuche (für das Haus, in dem Walser noch heute lebt), den Verleger Siegfried Unseld und über den Clinch mit Marcel Reich-Ranicki: "Ich würde niemals Autorität sagen. Immer nur Macht. Wenn einer Macht über dich hat, dann bist du abhängig." Ebenso Walsers missverstandene, viel kritisierte Paulskirchenrede und sein Büro gegen den Vietnam-Krieg sind Thema. Dennoch habe er "Engagement nie für ein Pflichtfach des Schriftstellers gehalten."

Das Gespräch – ob anekdotisch oder philosophisch am Prinzip interessiert – führt auch zu Nebenschauplätzen. Walser ist stets ein kluger und sensibler Antworter. (Michael Wurmitzer, 1.12.2017)