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In Kroatien gab es nach dem Selbstmord von General Slobodan Praljak Trauerfeiern.

Foto: Reuters / Dado Ruvic

Zagreb/Mostar – Die Hand aufs Herz gelegt, mit weinerlichen Stimmen, standen die Männer am Mittwochabend in Mostar und blickten in die Kerzen, die zum Gedenken jenes Mannes, der sich im Gerichtssaal in Den Haag mit Gift selbst getötet hat, aufgestellt wurden. Auch in Zagreb wurden Lampions aufgehängt. Beobachtet man die Reaktionen von national gesinnten Kroaten in Kroatien und in Bosnien-Herzegowina, könnte man meinen, dass es sich bei Slobodan Praljak nicht um einen Kriegsverbrecher handelte, sondern um einen Heiligen. Seine eigene Ikonisierung war von Praljak offensichtlich geplant. Der spätere General hatte schließlich auch Theater studiert.

Er rechnete offenbar mit den politischen Auswirkungen seines Suizids. In Kroatien ist nun jedenfalls die politische Rechte gestärkt. Bisher versuchten zumindest die Regierungsverantwortlichen die Urteile des Haager Gerichts zu respektieren. Doch die Stimmung kippte wegen der Selbsttötung des 72-Jährigen. Plötzlich wurden wieder jene Stimmen lauter, die von einem "politischen Gericht" in Den Haag sprachen.

Praljak wird als Opfer stilisiert und die wirklichen Opfer, nämlich jene Muslime, die in den Jahren 1993 bis 1994 in Zentralbosnien und in der Herzegowina von den kroatischen Einheiten (HVO) vertrieben, eingesperrt, misshandelt oder ermordet wurden, sind nicht im Fokus.

"Lange geplante Operation"

Der kroatische Analyst Davor Gjenero denkt, dass es sich bei dem Suizid um eine "lange geplante Operation" gehandelt habe. Unklar ist, durch wen Praljak an das Gift kam – Spuren wurden im Gerichtssaal gefunden. Die Obduktion wird mehr Aufschluss geben. "Er hat seinen Tod wie eine griechische Tragödie inszeniert", so Gjenero, "die Konsequenzen für seine Feinde sind sehr schlecht."

In Kroatien habe man in den vergangenen Jahren zunehmend verstanden, dass die Haltung zu Bosnien-Herzegowina zwischen 1993 und 1994 falsch gewesen sei, nun hätten aber die Radikalen wieder mehr Zulauf. Besondere Sorge bereitet ein mögliches Begräbnis Praljaks in seiner Heimatgemeinde Čapljina in der Herzegowina, wo besonders viele kroatische Nationalisten leben. Die Polizei war in Mostar bereits am Mittwoch sehr präsent.

Sogar der kroatische Premier Andrej Plenković – eigentlich ein moderater und kein nationalistischer Konservativer – sprach von einem ungerechten Urteil, das gegen die sechs militärisch oder politisch Verantwortlichen gesprochen wurde. Und er kündigte politische und rechtliche Schritte an. Natürlich weiß Plenković, dass das Urteil letztinstanzlich ist und er gar nichts dagegen machen kann. Ein Sprecher des Haager Gerichts bestätigt dies gegenüber dem STANDARD: "Die rechtlichen Möglichkeiten sind ausgeschöpft. Worauf sich Herr Plenković bezieht und welche rechtlichen Schritte er gemeint hat, können wir leider nicht kommentieren", heißt es in Den Haag.

Schlechte Politik in den 1990er Jahren

In Kroatien waren nur wenige rationalere Stimmen zu hören. Etwa jene des ehemaligen Präsidenten Ivo Josipović, der meinte, dass es ihm leid täte, dass mehr über Praljak gesprochen werde als über die Opfer. Auch die ehemalige Außenministerin Vesna Pusić sagte, dass das Urteil zeige, dass die Politik Kroatiens in den 1990er-Jahren schlecht gewesen sei.

Doch jene Politiker, die das Urteil zu einer nationalen Frage machten, waren – wie so oft – lauter. Die kroatische Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarović, die offensichtlich jetzt schon für ihre Wiederwahl 2019 um die Stimmen der Nationalisten buhlt, hatte bereits vor dem Urteil Praljak gelobt und ihre Zuversicht ausgedrückt, dass die Angeklagten freigesprochen würden.

Es ist also kein Wunder, wenn es für diese verwirrend war, dass sie einerseits von aktuellen Politikern als Heroen beschrieben und gleichzeitig als Kriegsverbrecher verurteilt wurden. Grabar-Kitarović meinte nun, dass Praljaks Suizid, ein "starker Schlag ins Herz des kroatischen Volkes" sei. Sie äußerte Zweifel am Gericht in Den Haag und meinte wider die Fakten, dass Kroatien kein "Aggressor" im Krieg in Bosnien-Herzegowina gewesen sei.

Schuldfrage nicht geklärt

Auch Plenković kritisierte, dass das serbische Regime unter Slobodan Milošević für die Verbrechen im Bosnien-Krieg – anders als nun indirekt Kroatien – nicht verurteilt wurde. Das liegt allerdings nicht an der Wahrheitssuche des Tribunals, sondern daran, dass Milošević vor seiner Verurteilung 2006 verstarb. Das Gericht hatte zudem gar nicht die Aufgabe, die großen historischen Schuldfragen zu klären, sondern individuelle Verbrecher dingfest zu machen. Tatsächlich war vor allem Serbien, aber auch zeitweise Kroatien, in den Krieg in Bosnien-Herzegowina militärisch und politisch involviert.

Das verteidigen bis heute viele. Dragan Čović, der Chef der größten und sehr nationalistischen kroatischen Partei in Bosnien-Herzegowina, der HDZ, meinte am Mittwoch, dass das Urteil ein "Verbrechen gegen alle Vertreter des kroatischen Volkes in Bosnien-Herzegowina" sei. Čović hat im Grunde ähnliche Ziele, wie jene sechs Kroaten, die nun verurteilt wurden. Die politische und militärische Führung in Kroatien und der nationalistischen Kroaten in Bosnien-Herzegowina wollte von März 1993 bis April 1994, einen Teil der Herzegowina ethnisch säubern, um diese Region – genannt Herceg Bosna – dann an Kroatien anzuschließen. Čović will bis heute einen eigenen Landesteil für die Kroaten in Bosnien-Herzegowina. Das Projekt "Herceg Bosna" wurde nie wirklich aufgegeben. Man kann die Fahnen der HVO immer wieder in Mostar sehen.

Ethnisch homogenes Gebiet

Im Krieg gingen Militärs und Politiker gemeinsam und gezielt gegen Muslime vor. Ihre Dörfer und Städte – wie etwa Ost-Mostar – wurden beschossen, attackiert, die Menschen wurden gefangen genommen, misshandelt und vertrieben oder auch getötet. Etwa 3000 Soldaten aus Kroatien waren in Bosnien-Herzegowina im Krieg, die Befehle für Praljak und Co kamen aus Zagreb. Es ging der politischen Führung damals darum, ein ethnisch homogenes Gebiet zu schaffen, in dem die Bosnier mit katholischen Namen dominieren sollten. Erst als die USA sich zunehmend politisch engagierten, lenkte die Führung in Zagreb unter dem damaligen Präsidenten Franjo Tudjman ein, und man schloss 1994 ein Abkommen mit den Bosniaken.

Die sechs Kroaten, die am Mittwoch in zweiter Instanz zu insgesamt 111 Jahren Haft verurteilt wurden, waren nicht die oberste Riege der Verantwortlichen – diese saßen in Zagreb, wie etwa Tudjman selbst oder der ehemalige Verteidigungsminister Gojko Šušak. Doch implizit wurde durch das Urteil nun auch klargestellt, dass die gesamte Politik Kroatiens von 1993 bis 1994, also der Versuch sich Teile des Nachbarlandes durch ethnische Säuberungen einzuverleiben, kriminell war. Für die langfristige Identitätsfindung und Aufklärung in Kroatien ist das Urteil deshalb wichtig und eigentlich positiv.

Akribische Arbeit des Tribunals

Das Haager Kriegsverbrechertribunal klärte schließlich auf, was Völkerrecht und Verfassung bedeuten. Der Versuch von Serbien und von Kroatien, das Nachbarland Bosnien-Herzegowina untereinander aufzuteilen, die eigenen Militärs und Waffen hineinzuschicken, war an sich schon jenseits jeglichen Rechts. Zusätzlich begingen kroatische Militärs – quantitativ und qualitativ noch mehr die serbischen Militärs – um dieses Kriegsziel zu erreichen, Verbrechen. Wenn das Haager Tribunal nun nach 24 Jahren seine Arbeit beendet, so sind diese Fakten dank der akribischen Arbeit erforscht und bewiesen.

Das Kriegsverbrechergericht stellte klar: Es ist Unrecht, Staatsbürger aus den eigenen Wohnungen und Häusern zu vertreiben, bloß weil sie nicht den Vor- und Nachnamen haben, der zur eigenen sogenannten Volksgruppe passt. In Bosnien-Herzegowina bezeichnen sich Menschen mit katholischen Namen als Kroaten, Menschen mit orthodoxen Namen als Serben, Menschen mit muslimischen Namen als Bosniaken. Diese Nationalisierung der Religionsgruppen fand verstärkt im 19. Jahrhundert statt. Heute glauben viele Leute tatsächlich, es handle sich um "ehtnische Gruppen" oder "Nationen".

Ende der Vergangenheitsbewältigung?

Das große Verdienst des Tribunals ist, die rassistische und verbrecherische Ideologie der 1990er Jahre seziert, analysiert und verurteilt zu haben. Analysten wie Gjenero befürchten allerdings, dass nun nach dem Ende des Tribunals die politisch Verantwortlichen in der Region, gar keine Vergangenheitsbewältigung mehr machen wollen. Zwar wurden lokale Prozesse gegen Kriegsverbrecher – teils mit Qualität und Mut – in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens geführt, doch auch diese gehen vielerorts zu Ende. Ein internationales Kriegsverbrechertribunal wird es nur mehr für den Kosovo geben. Mit Anklagen ist im nächsten Jahr zu rechnen. Sämtliche politische Eliten – insbesondere in Bosnien-Herzegowina und in Serbien – haben die Verbrechen und die Ideologie hinter diesen bis heute nicht verurteilt – geschweige denn die Mehrheit der Bevölkerung.

Gjenero glaubt, dass sich die Situation so entwickeln könnte wie in Deutschland in den 1950er-Jahren, als die Entnazifizierung als abgeschlossen bezeichnet wurde. "Die internationalen Kräfte, als auch die heimische Szene waren dagegen, weiter zu gehen." Gjenero verweist in diesem Zusammenhang auch darauf, dass die EU-Staaten die Erweiterung auf dem Balkan, und damit die Demokratisierung, nicht wirklich forcieren würden.

Kommission für die Verbreitung der Fakten über die Kriegsverbrechen

Eine Institution, die trotzdem weiter an Aufklärung und Aufarbeitung arbeiten will, ist der Zusammenschluss von hunderten NGOs aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens, die eine Kommission aller Regierungen schaffen will, die es sich zur Aufgabe machen soll, die Fakten über die Kriegsverbrechen und andere Vergehen gegen Menschenrechte von 1991 bis 2001 im ehemaligen Jugoslawien darzustellen. Die Hauptinitiatorin dieser Idee, einer der mutigsten Aktivistinnen in Südosteuropa, Nataša Kandić, die seit Jahren gegen sämtliche politische Widerstände versucht, die Fakten über die Verbrechen zu veröffentlichen, will, dass diese Kommission (Recom) Teil des Berlin-Prozesses wird. Dieser Prozess, der 2014 von Deutschland angestoßen wurde, soll die regionale Kooperation auf dem Balkan fördern.

Kommendes Jahr wird der Gipfel des Berlin-Prozesses höchstwahrscheinlich in Großbritannien stattfinden. Für viel Kritik sorgt allerdings der Plan der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, 2019 Polen zum Gastland der Beitrittskandidaten zu machen. Denn gerade dies wäre alles andere als ein Signal für mehr Rechtsstaatlichkeit, die man in Südosteuropa so dringend brauchen könnte, sondern würde höchstens den bilateralen Interessen Deutschlands dienen. (Adelheid Wölfl, 30.11.2017)