Die Wurzeln der aktuellen Bewegungen von Personen mit Behinderungen, die soziale Rechte und Anerkennung einfordern, sind in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zu finden: "Arbeit nicht Mitleid" war damals eine zentrale und bis heute gültige Forderung. Die  "Krüppelarbeitsgemeinschaft/Vereinigung der Körperbehinderten Österreichs" war in den 20er- und 30er-Jahren ein Dachverband von Betroffenen, Selbsthilfegruppen, Selbsthilfeorganisationen und Selbsthilfeeinrichtungen sowie von Rehabilitationspersonal (wie Ärzten) und Sonderschullehrern, die trotz politischer Unabhängigkeit eine gewisse Nähe zu den Sozialdemokraten gehabt haben dürften. Die Forderungen der Krüppelarbeitsgemeischaft sind politisch in der Entwicklung in Richtung Dollfuss-Regime und Austrofaschismus nicht umsetzbar gewesen.

Die Forderungen beinhalteten zum Beispiel die Gleichstellung mit Kriegsgeschädigten und einen rechtlichen Anspruch auf Leistungen in einem Bundesgesetz, um der Armenfürsorge zu entkommen. Ziel war es, menschenwürdiges Wohnen und Arbeiten zu unterstützen und der Mitleidsfalle zu entkommen. Die Arbeitsgemeinschaft setzte aus der allgemeinen Mängelsituation auch auf Sonderschulen, Heime und Werkstätten, die als Bildungs- und Rehabilitationsorte verstanden wurden (siehe: Der Krüppel, Nummer 3-4, 1932, Seite 5). 

Der Krüppel, Mitteilungsblatt der "Vereinigung der Körperbehinderten Österreichs" von 1933.
Logo: Der Krüppel

Die Krüppelarbeitsgemeinschaft gründete aus Verzweiflung mehrere selbstorganisierte Werkstätten und versuchte so Arbeitsplätze zu schaffen. 1938 passte sich die Arbeitsgemeinschaft widerstandslos den Nationalsozialisten an, in der letzten Nummer der eigenen Zeitschrift "Der Krüppel", wurde dazu aufgerufen, die Nazis zu wählen. Es folgte die Eingliederung der österreichischen Krüppelarbeitsgemeinschaft in den gesamtdeutschen Reichsbund der Körperbehinderten. Was aus den Funktionären der Vereinigung geworden ist, wer überlebt hat und welche Rolle sie nach 1945 hatten, ist zeitgeschichtlich nicht erforscht. Allerdings ist sichtbar, dass die Nachkriegs-Behindertenpolitik in Österreich nahtlos die Politik der Zwischenkriegszeit fortsetzte und die Selbsthilfebewegungen inhaltlich wieder an den Forderungen der Krüppelarbeitsgemeinschaft ansetzten, ohne diese zu nennen – das Verdrängen und Vergessen war allgemein.

Die Jahre nach 1945

Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, neben der Fortführung traditionsreicher Selbsthilfeverbände – wie Kriegsopferverband, Zivilinvalidenverband, Blindenverband, Gehörlosenverband –, ab den 1970er-Jahren, im Rahmen der Neuen Sozialen Bewegungen, an Menschenrechten und Selbstbestimmung orientierte Selbsthilfebewegungen von Personen mit Behinderungen. Sie wandten sich vom traditionellen Wohlfahrtsmodell ab, forderten umfassende Gleichstellung und protestierten gegen jede Art von Diskriminierung und Aussonderung. Sie gründeten Zentren für selbstbestimmtes Leben und entwickelten eine Praxis von Peer Counselling und persönlicher Assistenz. Diese neuen Behindertenbewegungen hatten und haben starken Einfluss auf den Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik und Behindertenhilfe, wie er sich in der von der internationalen Selbstbestimmt-Leben-Bewegung initiierten UN-Behindertenrechtskonvention wiederspiegelt.

Diesen neuen Gruppen war die Tradition der Selbsthilfe in der Zwischenkriegszeit völlig unbekannt. Die Zwischenkriegszeit und die Zeit des Nationalsozialismus waren in einem Schleier des Schweigens und Tabuisierens gehüllt. Vorbilder waren deswegen Aktivitäten für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen insbesondere in den USA in den 1950er- und 1960er-Jahren. Die Bürgerrechtsbewegung behinderter Menschen – Independent Living – breitete sich von Kalifornien über die gesamten USA aus. Anfang der 70er-Jahre protestierten Menschen mit den verschiedensten Behinderungen vehement mit Demonstrationen, Blockaden und Klagen gegen die diskriminierenden Bedingungen für behinderte Menschen und traten für die Schaffung von Voraussetzungen für ein Selbstbestimmtes Leben ein.

Graswurzelbewegung entsteht

Aus der politischen Stimmung der 1968er-Bewegung und den sich formierenden allgemeinen politischen, sozialen und an Bürgerrechten orientierten Bewegungen – Friedensbewegung, Frauenbewegung, Ökobewegung und so weiter – begann sich auch im deutschsprachigen Raum eine kleinteilige Graswurzelbewegung von Personen mit Behinderungen und ihren Verbündeten zu entwickeln, die erst in den 1980er-Jahren als Selbstbestimmt-Leben-Bewegung mit relativ einheitlichen Zielen auftrat.

1978 demonstriert eine kleine Gruppe für die Rechte Behinderter.
Foto: Laimer

Neue Perspektiven

Neue Perspektiven und Themen jenseits des herrschenden Diskurses um Behinderung wurden in die politischen Debatten einer Gesellschaft eingeführt, die es bis dahin gewohnt war, behinderte Menschen als Objekte karitativer Fürsorge oder staatlicher Wohlfahrt zu betrachten. Entmündigung, Isolation und Aussonderung sollten nicht länger hingenommen, die institutionellen Mauern, die den Raum des gesellschaftlichen Ein- und Ausschlusses markieren, zum Einsturz gebracht werden. Massive Kritik an der Gewalt in Institutionen mündete in einer Reihe von Aktionen gegen Großeinrichtungen der Behindertenhilfe in verschiedenen Bundesländern. 

Aus den persönlichen Erfahrungen von Unterdrückung und aus ihrer Empörung über die gesellschaftlichen Verhältnisse, die diese Verweigerung von Lebens- und Menschenrechten unterstützen, entstand eine bestimmte Widerstandskultur, die auch für die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung charakteristisch ist. Die österreichische Zeitschrift "LOS" (1983-1992) formulierte in der ersten Nummer exemplarisch Ziele: "Wir verstehen unsere Zeitschrift als einen Teil einer Bewegung gegen Aussonderung [...]. Wir hoffen, daß es uns gelingen wird, Mißstände deutlich beim Namen zu nennen. Es ist das System selber, das radikal geändert gehört." Themen, die die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung insgesamt beschäftigten, zeigen exemplarisch Schwerpunktnummern von "LOS" wie: Hilflose Medizin, Krüppelbewegung, Absonderschule, Literatur, Arbeitswelt, Euthanasie und Faschismus in Österreich, Eltern am Wort, Behinderte Sexualität, Selbstbestimmt Leben, Medien und Öffentlichkeit, Leben ohne Privatheit, Hungerstreik für Pflegegeld.

Zentren für selbstbestimmtes Leben

Die Mitglieder der Selbsthilfegruppen der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung reagierten von Anfang an unmittelbar sehr persönlich auf Fremdbestimmung und Segregation und erhoben entsprechende politische Forderungen. Bald wurde aber klar, dass das Ziel, Kontrolle über das eigene Leben zu erhalten, nicht nur über politische Aktionen erreicht werden konnte. Die politischen Systeme reagierten oft nicht, die Sozial- und Behindertenpolitik sowie das traditionelle System der Behindertenhilfe übten sich in Selbsterhaltung und nicht in Änderung.

Viele Gruppen gründeten in dieser verzweifelten Situation in einer für Selbsthilfegruppen typischen Reaktion, ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg, als Selbsthilfegruppen Träger von Werkstätten wurden. Die neugegründeten Zentren für selbstbestimmtes Leben – zum Beispiel in Innsbruck, Linz und Wien – boten als Selbsthilfeorganisationen Peer Counselling und persönliche Assistenz statt Pflege und Betreuung an. Diese Entwicklung war und ist aufgrund der verzweifelten Lebenslage vieler behinderter Menschen, der fehlenden politischen Durchsetzung von Deinstitutionalisierung, und der fehlenden Achtung von Selbstbestimmung in den vorhandenen Einrichtungen der Behindertenhilfe, nötig geworden. 

Demo in Innsbruck Mitte der 1990er-Jahre.
Foto: Stockner
Demonstration in Linz für persönliche Assistenz.
Bild: Karoliny für persönliche Assistenz

Die Frage ist offen, wieweit diese alternativen Organisationen das traditionelle System der Behindertenhilfe nur ergänzen und unter dem Druck der öffentlichen Finanzierung und öffentlicher Vorgaben selbst bestimmter Dynamiken der Institutionalisierung unterworfen werden. Sicher ist durch die Tätigkeit der internationalen Selbstbestimmt-Leben-Bewegung im Rahmen eines größeren gesellschaftlichen Wandels im Spät-Kapitalismus eine Reformdynamik in Gang gesetzt worden, deren Höhepunkt die Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2006 war. Es kann nur gesagt werden: Die diesbezüglichen Entwicklungen und Kämpfe dauern an. (Volker Schönwiese, 3.12.2017)

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