Wien – Bemerkenswert, dass dieses Format in Zeiten der Reizüberflutung und der sekundenkurzen Aufmerksamkeitsspannen noch funktioniert: Ein Mensch, der sich an ein Klavier setzt und zwei Stunden lang mit 88 Tönen Musikgeschichten erzählt. Doch das tut es und das Mühlrad des Klassikmarktes dreht sich, bringt junge Pianisten auf die Podien der Welt.

Evgeny Kissin, dem der greise Karajan noch Kusshände zuwarf, ist zum Mittvierziger herangereift, dessen Mienenspiel so exzentrisch erscheint wie die Interpretationen Ivo Pogorelichs – des Klavier-Posterboys der frühen 1980er. Der zwischen Genie und Showsinn changierende Lang Lang (35) laborierte heuer an muskulären Problemen seines linken Arms. Seine Landsfrau Yuja Wang (30) demonstrierte ihrer Virtuosität weltweit ungehindert.

Künstlerisch wirkt Igor Levit mit profunderer Überzeugungskraft, der streitbare Geist erfrischt zudem mit ungewöhnlichen Programmen. Da wäre noch das sinnliche Spiel Khatia Buniatishvilis wie Wang und Levit Jahrgang 1987, das zwischen Leichtigkeit und Intensität changiert.

Womit wir bei Daniil Trifonow wären: Als glühend erwies sich das Spiel des 26-Jährigen auch bei seinem Soloabend im Konzerthaus; glühend, und doch wohldosiert. Trifonow – der Russe zieht musikalisch quasi das Florett dem Säbel vor – dimmte die ihm innewohnende vulkanische Hitze in seinem Chopin-Programm (fast zu) oft zum heimeligen Herdfeuer herunter. Bei den zwei großen Variationswerken demonstrierte der Pianist auf einem Bösendorfer seine Klasse: Bei Mompous Variationen über ein Thema von Chopin spannte er einen Bogen von leichtgewichtiger Salonmusik bis zu Bombast à la Rachmaninow.

Und bei Rachmaninows Variationen über ein Thema von Chopins Op. 22 legte er die große Bandbreite des Werks dar, das tonraumgreifenden Pathos Liszts, Chopin-Etüden-Brillanz und andere virtuos camouflierte Reverenzen an Vorbilder beinhaltet.

Eine Zeitlupenmusik

Das panisch drängende Thema des Kopfsatzes der b-Moll-Sonate ging Trifonow behutsam an, enttäuschend der eilige Übergang zum lyrischen Des-Dur-Thema; der Schlussgruppe verweigerte er triumphalen Glanz. Dem Scherzo fehlte es an Gnadenlosigkeit, der im Kriechtempo vorgetragene Trauermarsch war mehr Kunststück als Musik. Den A-Teil legte Trifonow als großes Crescendo an, dessen Wiederkehr als Decrescendo: Wurden hier neue Dynamikangaben von Chopin gefunden?

Der Mittelteil war, wie die Zugabe, kunstfertige Zeitlupenmusik. Zu rauschend dann der apokalyptisch-avantgardistische Schlusssatz, der Wind, der über Gräber weht. Am Ende Begeisterung und die Frage: Wird das Mühlrad der Zeit Trifonow zunehmend in exzentrische Interpretationsgefilde heben? Seine Zuhörer werden es aufmerksam verfolgen. (Stefan Ender, 27.11.2017)