Mindestens 37.000 Menschen in Österreich haben zumindest vorübergehend kein eigenes Dach über dem Kopf und sind auf Hilfseinrichtungen angewiesen.

APA / Roland Schlager

Um Punkt 18 Uhr öffnet Ines Obser die Tür. Die ersten Besucher gehen zum kleinen Schreibtisch in der Tür zum Personalraum, der als Rezeption dient, und melden sich an. "Heute werden wir wieder voll", sagt Obser, die als Sozialarbeiterin in der Winternotschlafstelle des Roten Kreuzes in Innsbruck Dienst tut. 25 Personen finden im unscheinbaren Haus am Sillufer im Stadtteil Pradl Nacht für Nacht Zuflucht.

In ganz Österreich haben mittlerweile wieder oft lebensrettende Winterunterkünfte für Menschen, die keine Wohnung haben, geöffnet. Wie viele Obdachlose es gibt, weiß niemand. Die bisher letzte Erhebung über Wohnungsnotfälle stammt aus dem Jahr 2009, damals wurden laut Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe 37.000 Menschen betreut. Die Dunkelziffer liegt weit höher. Auffällig ist, dass mehr als die Hälfte der Betreuten jünger als 35 Jahre alt war. Der Anteil an jungen Obdachlosen sei heute noch höher, schätzen Hilfseinrichtungen.

In Innsbruck gilt, wie in den meisten Unterkünften das Prinzip "Wer zuerst kommt" – daher warten schon um 17 Uhr die ersten Obdachlosen vor der Tür. Zwei solcher Notschlafstellen stehen in Innsbruck, das zuletzt mit seiner Verbotspolitik gegen sozial Schwache von sich reden machte, zur Verfügung. In der Einrichtung des Roten Kreuzes erhalten ausschließlich EU-Bürger Zutritt. In der zweiten, die von den Tiroler Sozialen Diensten betrieben wird, gibt es keine Zugangsbeschränkungen.

Viele müssen weggeschickt werden

Im Vorjahr verzeichnete die Notschlafstelle in Pradl rund 4.500 Nächtigungen. "Das entspricht einer Auslastung von 98 Prozent. Wir sind gut gebucht", erklärt Stefan Biebel, der Leiter der Einrichtung. Fast täglich müssten er und sein Team Schutzsuchende abweisen: "Es tut mir im Herzen weh, wenn ich Leute wegschicken muss."

Um 23 Uhr ist Nachtruhe. Bis dahin darf vor der Türe noch geraucht und auch Alkohol konsumiert werden. "Viele würden es nicht schaffen, so lange ohne Alkohol auszukommen", erklärt Biebel.

Auch in Salzburg geht es am frühen Abend los. Um 18.30 Uhr warten bereits 60 Bettler vor dem Eingang zum Haus Franziskus im Stadtteil Parsch. Die ersten 20 kommen sofort in das Notquartier, sie haben eine Zuweisung, mit der sie bis zu 14 Tage am Stück einen Schlafplatz im Haus der Caritas haben. Die restlichen 30 Plätze werden nach und nach an die Wartenden vergeben. Die ersten Bettler aus Rumänien gehen in den Speiseraum, wo ihnen ein warmes Essen ausgeteilt wird. Die andere Hälfte geht in der Zwischenzeit duschen.

"In den nächsten Tagen werden wir wohl wieder übervoll", befürchtet auch der Leiter des Haus Franziskus, Torsten Bichler. Auch das neue Angebot für Familien werde rege genutzt. In zwei Familiennotzimmern können Eltern mit ihren Kindern untergebracht werden. "Erst in der Vorwoche war ein Paar mit einem vierjährigen Sohn nach einer Delogierung eine Woche bei uns", sagt Bichler. Immer häufiger seien auch arbeitende Menschen unter den Hilfesuchenden. "Die kommen oft erst um ein oder zwei Uhr nachts, weil sie in der Gastronomie arbeiten."

Die Armutsgefährdung ist in Österreich seit 2008 zwar um 2,8 Prozentpunkte gesunken, doch laut Statistik Austria sind 1,5 Millionen Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen. Als armutsgefährdet gilt, wer (in einem Einzelhaushalt) weniger als 1158 Euro netto pro Monat verdient. 592 Euro werden für jeden weiteren Erwachsenen im Haushalt addiert, trotzdem geht sich immer öfter eine eigene Wohnung nicht mehr aus.

Frauen meiden Notschlafstellen

Tagesstätten für Obdachlose sind seltener, das Haus Ester in der Esterházygasse in Wien ist eine davon. Zutritt ist nur Frauen erlaubt. Die Einrichtung besteht neben Duschen und Waschmaschinen aus einem großen Raum, in dem am Vormittag ruhige Stimmung herrscht. Einige Frauen schlafen auf den Couchen im hinteren Ende, andere frühstücken oder lesen Zeitung.

Gabrielle Mechovsky leitet das Zentrum seit der Eröffnung 2013. "Was bei Frauen häufig vorkommt, ist verdeckte Wohnungslosigkeit", sagt Mechovsky. "Frauen wollen ihre Situation verbergen, achten ganz stark auf ihr Äußeres und vermeiden es, in Notquartieren zu schlafen." Daher würden viele bei entfernten Verwandten oder Bekanntschaften unterkommen. "Vor allem in Zweckbeziehungen ist diese Art von Abhängigkeit aber ein Nährboden für Gewalt".

In der von der Caritas betriebenen "Gruft", einer der bekanntesten Obdachloseneinrichtungen in Wien-Mariahilf, werden täglich bis zu 250 Menschen im Tageszentrum zu Mittag verköstigt. Susanne Peter, die seit der Gründung vor knapp 31 Jahren hier arbeitet, erzählt vom umfassenden Angebot: Neben Hygieneartikeln und Bekleidung gibt es in der Gruft auch Schachturniere, Fußballspiele und Ausflüge werden organisiert.

Ein Streetwork-Team betreut das ganze Jahr über Menschen auf der Straße. Im Winter gibt es zudem das Kältetelefon. Heuer gab es bereits 678 Anrufe unter der Wiener Nummer 480 45 53, um auf Aufenthaltsorte von Obdachlosen hinzuweisen. Streetworker fahren dann hin, laden Wohnungslose in die Gruft ein oder versorgen sie zumindest mit aus Spendengeldern finanzierten Schlafsäcken. (Steffen Arora, Anastasia Hammerschmied, Stefanie Ruep, 23.11.2017)