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Rund 150.000 Besucher kommen jährlich zu einer Art Charles-Dickens-Festspielen ins weihnachtliche Deventer.

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Rund 1.000 Deventer schlüpfen in viktorianische Kleider ...

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... und Charaktere aus den berühmten Dickens'schen Werken.

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Das Ambiente der Hansestadt passt hervorragend als Kulisse für die Geschichten von Dickens, finden nicht nur die Veranstalter.

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Nein, er ist überhaupt nicht zufrieden. Die Welt ist schlecht. Die Menschheit taugt nichts. Die Wirtschaft steckt in der Krise. Zeternd, mit mürrischem Gesicht schreitet er, mit schwarzem Mantel und Zylinder bekleidet, über das Kopfsteinpflaster. Er schimpft. Ebenezer Scrooge ist sein Name. Das freundliche "Merry Christmas", das von allen Seiten durch die Straßen tönt, denn es sind nur noch wenige Tage bis Weihnachten, überhört er geflissentlich. London, Mitte des 19. Jahrhunderts. Die feine Gesellschaft hat sich herausgeputzt. Flaniert durch die Gassen der Stadt. Trifft sich zum Plausch.

Doch nicht jeder wandelt auf der Sonnenseite des Lebens. Am Ende der Straße mühen sich Frauen und Mädchen mit dem Waschbrett ab. Aus schweren Bottichen dampft die heiße Waschlauge. Gegenüber spielt die Heilsarmee "Molly Malone", und rußverschmierte Waisenkinder liegen bettelnd und halb erfroren in der Gosse. Scrooge hastet weiter. "Macht Platz für den Tod", hallt es durch die Häuserschlucht. Der schlecht gelaunte Mann muss einem Leichenzug ausweichen. Neben einer Suppenküche bleibt er stehen. "Ein Teller Erbsensuppe – zwei Euro" steht auf dem Schild.

Perfekte Kulisse

Das klingt weder nach 1860 noch nach britischem Königreich. Alles ist nur gespielt. Seit über 25 Jahren findet an einem Wochenende im Dezember (heuer am 16. und 17. 12.) das Charles-Dickens-Festival im niederländischen Deventer statt. Der britische Autor, der vor 200 Jahren in Portsmouth geboren wurde, ist der geistige Vater von Ebenezer Scrooge, Oliver Twist, David Copperfield, Nicholas Nickleby, Samuel Pickwick, Uriah Heep und Toby Veck.

Doch Charles Dickens lebte in England. Kam nie nach Deventer. Wieso wird es dann einmal im Jahr viktorianisch in der Kleinstadt an der Ijssel? Die Erfinderin des Festivals ist Emmy Strik. In der Walstraat betrieb sie jahrzehntelang einen kleinen Laden für Geschenkartikel, den heute ihre Tochter führt. Im Dezember 1991 wollten die Stadtväter einen verkaufsoffenen Sonntag abhalten. Emmy Strik war strikt dagegen: "Nach sechs Arbeitstagen wollte ich nicht auch noch sonntags hinter der Ladentheke stehen. Wenn es schon sein musste, dann sollte an dem Tag etwas Besonders stattfinden." So kam ihr die Idee zu einem viktorianischen Fest. "Ich habe die Dickens-Bücher verschlungen und liebe England", erzählt sie: "Das Ambiente unserer Hansestadt mit Häusern aus verschiedenen Epochen, viele aus dem 16. und 17. Jahrhundert, und Kopfsteinpflasterstraßen bildet doch die perfekte Kulisse."

Stumm und steif

70 Akteure konnte Emmy Strik damals zum Mitmachen bewegen. Heute sind es um 1.000 Deventer, die in viktorianische Kleider schlüpfen und Charaktere aus den berühmten Dickens'schen Werken darstellen. "Wir spielen die Rollen nicht", meint Loek van Voorst: "Wir sind zwei Tage lang die Person, die wir darstellen." Seit über 20 Jahren ist er der herzlose Ebenezer Scrooge aus dem Roman "Eine Weihnachtsgeschichte". "Nach den Feiertagen darf ich wieder lustig sein", sagt van Voorst.

Eine Dudelsackgruppe und Wachsoldaten ziehen auf. Alle zwei Stunden lässt sich Queen Victoria in einer schwarzen Sänfte durch die Straßen tragen, um ihren Untertanen zuzuwinken. Die Wachen vor "ihrem Palast" in der Walstraat sind so stumm und steif wie ihre Londoner Vorbilder. Hinter einer Mauer bildet Fagin, ein Landstreicher aus dem Roman "Oliver Twist", gerade eine Bande elternloser Kinder zu Taschendieben aus.

Muffins und gefüllte Waffeln

Auch kurze Szenen aus einzelnen Dickens-Werken werden aufgeführt. Mehrmals am Tag singt ein Kinder- und Jugendchor vor der Kirche, dem höchsten Punkt des mittelalterlichen Viertels.

Alle Geschäfte des sogenannten Bergkwartiers haben während des Festivals geöffnet. Die Ladenbesitzer sind verpflichtet, sich der viktorianischen Zeit entsprechend zu kleiden. Das Warenangebot könnte nicht passender sein: feinstes Geschirr, Schokoladespezialitäten, Tee, Käse, Hüte, Bürsten, Bücher, Möbel. "Mistelzweige. Kauft Mistelzweige. All you need is love", ruft eine junge Blumenverkäuferin: "Ein Bund fünf Euro." Da ist sie wieder – die Neuzeit!

Fürs leibliche Wohl der rund 150.000 Besucher ist während des Festivals gesorgt. "Hier gibt es die besten Muffins und gefüllten Waffeln", preist eine Küchenmamsell ihre Produkte an. Auch auf Punsch und Bockwurst muss niemand verzichten: "Wat zijn ze lekker, wat zijn ze fijn. Warme worsten, warme wijn", schallt es durch die Gassen. Übertönt werden die Marktschreier nur von Chören und Musikkapellen.

David Copperfield hat seine Verlobte Dora Spenlow untergehakt. Sie wollen den Nachmittag in der Stadt verbringen. Ein paar einflussreiche Freunde treffen. Ein zeternder Mann mit wehenden weißen Haaren und schwarzem Mantel kommt ihnen entgegen. "Merry Christmas, Mister Scrooge." (Dagmar Krappe, RONDO, 26.11.2017)