In Barcelona wird Freiheit für die politischen Gefangenen gefordert.

Imago / Pacific Press Agency / Jorge Sanz

STANDARD: Heute findet in Brüssel die erste Instanz im Auslieferungsverfahren gegen die fünf Mitglieder der abgesetzten katalanischen Regierung statt, die in Belgien sind – darunter deren Chef Carles Puigdemont. Lässt sich die Auslieferung verhindern?

Boye: Es kann sein, dass dem Antrag der Madrider Audiencia Nacional in erster Instanz stattgegeben wird. Der Richter in Brüssel steht unter enormem Druck. Aber ich sehe nicht, wie das, was Spanien im Auslieferungsantrag aufführt, in der nächsten Instanz vor belgischem und europäischem Recht Bestand haben soll.

STANDARD: Sind Auslieferungsanträge in der EU nicht Formsache?

Boye: Schon, aber wenn die Straftaten im europäischen Auslieferungsabkommen nicht vorgesehen sind, dann ist das nicht so einfach.

STANDARD: Was heißt das?

Boye: Es geht um Rebellion und Aufstand, dazu muss Gewalt im Spiel sein. Die Auslegung des Gesetzes durch die Audiencia Nacional ist völlig überzogen. Dahinter stehen ganz klar politische Interessen. Die Richter in Madrid gehen davon aus, dass es Gewalt ist, wenn sich eine Menschenmenge friedlich der Polizei in den Weg stellt. Diese Definition kommt einer Einschränkung des Demonstrationsrechts gleich. Außerdem wird davon ausgegangen, dass sechs Millionen Euro veruntreut wurden, um das Referendum vom 1. Oktober vorzubereiten. Der Oberste Gerichtshof, wo die Mitglieder des Präsidiums des Autonomieparlaments wegen der gleichen Delikte vor Gericht stehen, sieht dafür keine Beweise.

STANDARD: Aber die Angeklagten haben doch ganz klar gegen die Verfassung verstoßen.

Boye: Sich auf eine Unabhängigkeitserklärung zu einigen, sie dem Parlament vorzulegen, damit darüber abgestimmt wird, die Durchführung einer Volksabstimmung – das wäre nirgends in Europa Rebellion oder Aufstand. So etwas ist auch in anderen Regionen passiert, etwa in Norditalien, und dafür kam niemand ins Gefängnis.

STANDARD: Aber ein Unabhängigkeitsreferendum ist in Spaniens Verfassung nicht vorgesehen.

Boye: Ein Referendum kann eventuell nicht verbindlich sein oder keinerlei politischen oder rechtlichen Wert haben. Aber auf keinen Fall ist ein Verbrechen. Die Regierung hat das Referendum abschätzig als Picknick bezeichnet. Wir haben acht Personen in Haft, sechs auf freiem Fuß, nachdem sie eine Kaution hinterlegt haben, fünf sollen ausgeliefert werden. Und das alles wegen eines Picknicks? Vielleicht sollte die Regierung erst einmal klären, was das denn nun war. Dass jemand dafür verfolgt wird, dass er Gesetzte verabschiedet und eine Volksabstimmung durchführt, entfernt Spanien vom restlichen Europa.

STANDARD: Aber die Gesetze wurden vom Verfassungsgericht für illegal erklärt. Dennoch hat Kataloniens Regierung weitergemacht.

Boye: Das ist die größte Lüge der Regierung in Madrid. Das Referendumsgesetz wurde nicht für illegal erklärt, sondern nur ausgesetzt. Und dann stellt sich die Frage nach der Zusammensetzung des Verfassungsgerichts. Von zwölf Richtern werden vier von der Regierung ernannt, zwei vom Senat, wo die Regierungspartei die absolute Mehrheit hat, vier vom Kongress und zwei vom Richterrat, wo die Konservativen auch die Mehrheit haben. Wenn das kein politisches Gremium ist! In Brüssel steht nicht der katalanische Unabhängigkeitsprozess vor Gericht, sondern Spanien und die Qualität seiner Demokratie und Justiz.

STANDARD: Stimmt es, dass Madrid im Auslieferungsantrag Delikte anführt, die denen, die in Spanien geblieben sind, gar nicht vorgeworfen werden?

Boye: Die Anklage in Madrid geht von Rebellion, Aufstand und Veruntreuung aus. Im Auslieferungsantrag kommen Befehlsverweigerung und Amtsmissbrauch hinzu. Das heißt, in Spanien sitzen acht Angeklagte wegen dreier Vergehen in Untersuchungshaft. Die Auslieferungsanträge aber belaufen sich auf fünf Anklagepunkte.

STANDARD: Können Sie nach der zweiten Instanz in Berufung gehen?

Boye: Ja, und von dort aus vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Aber wir glauben nicht, dass dieser Gang nötig sein wird. Wir vertrauen voll und ganz auf die belgische Justiz. (Reiner Wandler, 17.11.2017)