Die Gegenstände im Kindergarten sind in verschiedenen Sprachen beschriftet. Jede Sprache hat ihre eigenen Farbe.

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Im Kindergarten in der Forsthausgasse sprechen die Kinder 27 Sprachen.

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"Üzüm", brüllen die Kinder, als sie das Weintraubenbild sehen.

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Auch Englisch ist eine der Sprachen, die gefördert wird.

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Wien – Hanna-June sprach anfangs kaum und hielt sich bei Spielen im Hintergrund. Sie war ein zurückhaltendes Kind. Dessen waren sich ihre Kindergartenpädagoginnen sicher. Sie haben sich getäuscht. Heute trägt Hanna-June ein goldenes Kleid. "Du hast aber ein hübsches Kleid, woher hast du das?", fragt Irén Komenda die Dreijährige. "Ich hab es einfach. So was liegt bei uns einfach herum", sagt sie und lacht. Die beiden sprechen ungarisch miteinander.

Seit Hanna-June in ihrem Kindergarten im zwanzigsten Wiener Gemeindebezirk dazu aufgefordert wird, in allen Sprachen zu reden, die sie kann – das sind Ungarisch, Englisch und Deutsch –, ist sie aufgeblüht. So erzählt es zumindest Komenda, die bis vor kurzem den Kindergarten geleitet hat und jetzt Fachberaterin für Mehrsprachigkeit bei den Kinderfreunden ist, einer Vorfeldorganisation der SPÖ.

Seit dem Frühjahr 2016 ist der Kindergarten in der Forsthausgasse Teil eines Bildungsprojekts, das vom Europäischen Entwicklungsfonds im Rahmen des "Interreg-Programms" zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit für die nächsten drei Jahre finanziert wird. Ziel ist es, herauszufinden, wie es sich auf die Entwicklung auf Kinder auswirkt, wenn ihre Mehrsprachigkeit gefördert wird.

Sprachen der Nachbarländer

Auch Kindergärten und Schulen in Tschechien, der Slowakei und Ungarn machen bei dem Projekt mit. In Österreich sind in Wien insgesamt drei Kindergärten der Kinderfreunde und acht Volksschulen beteiligt, Projektpartner sind außerdem Kindergärten und Schulen im Burgenland, in Niederösterreich und in Oberösterreich. In den drei Bundesländern konzentrierten sich die Kindergärten auf die Förderung der Sprachen der Nachbarländer, in Wien gehe es vor allem um die migrationsbedingte Mehrsprachigkeit, sagt Karin Steiner, die für die Wiener Kinderfreunde die Bildungskooperation leitet.

90 Prozent mehrsprachig

Im Kindergarten in der Forsthausgasse sind 90 Prozent der 127 Kinder mehrsprachig, sie bringen 27 Sprachen mit. Gerade ist Zeit für die Jause. Es gibt Butterbrote, Obst und Gemüse für alle, die hungrig sind. Während manche an den Tischchen sitzen und essen, schneiden zwei Mädchen und ein Bub mit ihrer Sprachbegleiterin Birnen, Pflaumen, Mandarinen und Äpfel. Sie sprechen serbokroatisch und deutsch. "Wir bereiten ein Spiel vor, in dem wir blind verkosten, wie das Obst schmeckt und riecht", erklärt die Sprachbegleiterin. Beim Spiel dabei ist auch ein Mädchen aus einer anderen Kindergartengruppe. "Die Kinder finden immer die Sprachbegleiterin, mit der sie sich unterhalten wollen", sagt Komenda.

Eine Sprachbegleiterin für jede Gruppe

Üblich sind in Wien Kindergartengruppen mit 25 Kindern, die von einer Pädagogin und einer Assistentin betreut werden. Hier jedoch kommt dank der EU-Förderungen zu jeder der vier Gruppen noch eine Sprachbegleiterin oder ein Sprachbegleiter hinzu. Zusätzlich hilft ein Flüchtling aus Afghanistan ehrenamtlich mit. Betreuungsverhältnisse, von denen andere Kindergärten nur träumen können.

"Üzüm", brüllen zwei von vier Kindern, die es sich im Gang auf Sitzpolstern bequem gemacht haben. Die Sprachbegleiterin hält ein Bild von Weintrauben hoch. Jedes Kind hat vor sich eine Karte mit verschiedenen Bildern von Obst liegen. Wer die Weintrauben auf seiner Karte findet, schreit das Wort auf Türkisch. Der Bub, der am schnellsten war, bekommt das Bild der Weintrauben von der Sprachbegleiterin und darf es auf seine Karte legen.

Die gewohnte Sprache genommen

Die Bildungswissenschafterin und pädagogische Projektleiterin Steiner ist überzeugt davon, dass die Förderung der Mehrsprachigkeit auch zu besseren Deutschkenntnissen bei den Kindern führt. "Wenn die Kinder die Sprache von zu Hause sprechen dürfen sind sie offener für alle Sprachen, sie haben nicht nur mehr Freude am Lernen, sondern sie lernen auch, gemeinsam über Sprache nachzudenken und sich darüber in Deutsch zu unterhalten." Das fördere auch den Erwerb der deutschen Sprache. Wenn bereits ganz junge Kinder dazu aufgefordert würden, nur Deutsch zu sprechen, obwohl sie es noch nicht richtig können, würden sie unsicher. Das schade nicht nur dem Spracherwerb in Deutsch, sondern der Gesamtentwicklung des Kindes. "In einem Entwicklungsstadium, in dem sie eigentlich besonders viel lernen, verstummen viele Kinder, da ihnen die für sie gewohnte Sprache genommen und durch eine neue ersetzt wird."

Generell sei die gesetzliche Anforderung an Kindergärten, wonach Kinder so gefördert werden sollen, dass sie vor dem Eintritt in die Schule die Sprache Deutsch ausreichend beherrschen, unmöglich zu erfüllen. "Mehrsprachige Kinder brauchen fünf bis acht Jahre, um den Stand zu erreichen, den ein gleichaltriges Kind hat, das mit nur einer Sprache aufgewachsen ist", sagt Steiner. An der Anforderung "Deutsch vor Schuleintritt", die ÖVP und FPÖ in den aktuellen Regierungsverhandlungen diskutieren, könnten die Kinder also nur scheitern. "Die Schule muss sich auch darum kümmern und sich mit Mehrsprachigkeit auseinandersetzen, was in diesem Projekt ja auch passiert", sagt Steiner. (Lisa Kogelnik, 22.11.2017)