Der Politologe Ivan Vejvoda, in den 1990er-Jahren Schlüsselfigur der serbischen Oppositionsbewegung, forscht derzeit in Wien.

Foto: Heribert Corn

STANDARD: Die EU ist mit einer multiplen Krise konfrontiert: Flüchtlinge, Brexit, Renationalisierung, Separatismus. Was davon ist die größte Herausforderung?

Vejvoda: Es ist sehr schwierig, eine Rangordnung aufzustellen, weil die meisten Herausforderungen miteinander zusammenhängen. Aber wenn ich eine Wahl treffen müsste, würde ich sagen, es ist die Angst vor der Zukunft. Die Migrations- und Flüchtlingskrise hat das deutlich gemacht. Dabei ist es nicht einmal so sehr die Zahl der Flüchtlinge – etwa eine Million – als vielmehr die Plötzlichkeit, mit der die vielen Menschen zu einem bestimmten Moment da waren. Ein deutscher Bundestagsabgeordneter sagte mir: Sie müssen verstehen, dass unter den Bürgern ein Gefühl von Panik herrscht. Und dieses Gefühl resultierte, glaube ich, aus der Angst, überrollt zu werden. Die Leute verstanden nicht, warum es diesen plötzlichen Zustrom gab.

STANDARD: Dabei waren die Konflikte, die die Flüchtlingsbewegung auslösten, ja hinreichend bekannt. Haben wir einfach weggeschaut?

Vejvoda: Europa saß nicht aufmerksam am Steuer. Man meinte, Syrien, der Nahe Osten seien weit weg und irgendwie würde dieses Problem von selbst verschwinden. Die Türkei, Jordanien und der Libanon nahmen Millionen Flüchtlinge auf und baten Europa um Hilfe, aber Europa schaute weg. Und dann, stark vereinfacht gesagt, öffnete die Türkei die Tore. Es mangelte an strategischem Denken in Europa. Stattdessen gab es viel Krisenmanagement, also reaktive Politik. Und das ist eine Herausforderung: Europa muss in die Gänge kommen und viel mehr strategisch, nach vorn denken. Aber das ist sehr schwierig, so wie Europa konstruiert ist.

STANDARD: Liegt es an mangelnder Führung, dass keine gemeinsame Linie gefunden und durchgezogen werden kann – wenn man etwa die abwehrende Haltung der vier Visegrád-Länder (Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei) in der Flüchtlingsfrage betrachtet?

Vejvoda: Ja, es gibt insgesamt einen Mangel an Leadership. Der hat – ohne ihn rechtfertigen zu wollen – tiefere Ursachen. Die größere Frage lautet: Was bedeutet es, viele Jahrzehnte, vermutlich in der historisch längsten Periode, in einem friedlichen Europa gelebt zu haben? Wie beeinflusst das unsere Fähigkeit vorauszuschauen, zu planen, uns zu organisieren und uns zu vereinigen, und dies unter dem Schutzschirm der USA. Es war quasi ein Vergnügen, Europa aufzubauen und daraus eines der erfolgreichsten Friedensprojekte der Menschheitsgeschichte zu machen. 1989 wurde das nur noch bestätigt, als die Länder, die durch das Jalta-Abkommen abgetrennt worden waren, nach Europa zurückkehrten. Dann geschah Unvorhergesehenes, und Europa wurde von der Krise erwischt.

STANDARD: Kam es zu einer neuen West-Ost-Teilung Europas?

Vejvoda: Die Dinge sind komplizierter, als sie in den Schlagzeilen erscheinen: böser Osten, guter Westen; die wollen nur das Geld, aber keine Flüchtlinge. Zu Beginn gab es einen Fehler im Leadership: Einige wichtige Entscheidungen wurden nur von den großen Ländern, namentlich Deutschland, getroffen. Das erzeugte viel Enttäuschung: Sind wir nicht alle in derselben Union, und sollten wir nicht gemeinsam entscheiden? Da geht es stark um Psychologie – ohne dass ich diese Haltungen rechtfertigen will.

STANDARD: Die Visegrád-Staaten sind kein monolithischer Block.

Vejvoda: Polen und Ungarn haben Probleme mit der Demokratie, Tschechien und die Slowakei nicht. Die Slowakei ist in der Eurozone und sehr erpicht darauf, an deren weiterem Einigungsprozess teilzunehmen. Was die multiple Krise und vor allem die Migrationskrise offengelegt hat, ist die tiefere Frage der Identität. Das betrifft ja nicht nur die Visegrád-Vier. In Deutschland haben wir die AfD, in Frankreich Marine Le Pens Front National. Es gibt eine tiefere Existenzangst, die irreal ist.

STANDARD: Sie meinen das Verhältnis zwischen der Zahl der Flüchtlinge und der EU-Bevölkerung?

Vejvoda: Es geht um die subjektive Wahrnehmung, dass wir durch die Flüchtlinge in Gefahr sind. Die Fakten sind: Eine Million Flüchtlinge ist selbst im Vergleich zu den 80 Millionen Einwohnern Deutschlands ein Tropfen im Eimer. Aber zusammen mit der Wirtschaftskrise, mit der Angst um die Arbeitsplätze infolge der Digitalisierung ergibt das so ein Mischmasch.

STANDARD: Was ist vonseiten der verantwortlichen Politikern zu tun?

Vejvoda: Die meisten Menschen haben Gemeinsinn. Und wenn man ihnen die Dinge auf rationale Weise erklärt, werden sie die meisten akzeptieren. Das politische Angebot versucht dagegen, auf Umfragen zu reagieren. In Österreich haben die Mainstream-Parteien bei den jüngsten Wahlen versucht, diese "rechten" Botschaften zu absorbieren. In den europäischen Führungsetagen hat das Erstarken von Populisten zu einem Erwachen geführt. Man versucht, mehr auf die Ängste der Leute einzugehen.

STANDARD: Sehen Sie Ansätze für neuen europapolitischen Elan?

Vejvoda: Emmanuel Macron ist ein Beispiel. Der französische Präsident zeigte, was es bedeutet, eine positive Botschaft zu Europa zu verkünden: Ja, es ist möglich, und neben der französisch-deutschen Achse müssen wir die anderen Länder an Bord holen. Das zweite ist die klare Reaktion auf den Brexit und die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten. Viele Umfragen danach zeigten einen Schub für Europa.

STANDARD: Das heißt?

Vejvoda: Die Leute haben Europa für selbstverständlich genommen wie die Luft, die sie atmen. Brexit und Trump waren eine Art Weckruf: Was würde passieren, wenn wir Europa nicht hätten? Ja, es gibt eine Menge Probleme in Brüssel, mit den Eurokraten und so weiter. Aber was, wenn wir wieder allein wären – wenn wir uns die Welt um uns herum anschauen? Das europäische Narrativ funktioniert nur, wenn es bei den Menschen ganz konkret ankommt: Wir haben Frieden, offene Grenzen, eine gemeinsame Währung. Das ist etwas. Es ist sehr unvollkommen, aber viel besser, als wenn wir es nicht hätten. (Josef Kirchengast, 16.11.2017)