Sten Nadolny schreibt über die Liebe als Zauberkunst, die nicht jeder lernt.

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Sten Nadolny, "Das Glück des Zauberers". € 22,70 / 320 Seiten. Piper-Verlag, München 2017

cover: Piper-Verlag

STANDARD: In "Das Glück des Zauberers" blickt der mehr als 100-jährige Zauberer Pahroc auf sein Leben zurück und unterweist seine Enkelin Mathilde in der Zauberkunst. Muss man zaubern können, um sein Glück im Leben zu finden?

Nadolny: Es gibt kein Zaubern, auch wenn man noch so gerne daran glauben mag. Im Leben des Zauberers Pahroc ist es eher eine kleine Besonderheit, wie wir alle unsere Besonderheiten und kleinen Geheimnisse haben. Insofern ist Pahroc zwar ein Zauberer, aber ein normaler Mensch. So wollte ich ihn haben. Ich wollte keinen merkwürdigen Elite-Menschen schaffen, sondern einen, der mitten unter uns lebt, aber ein bisschen zaubern kann. Das Zaubern bringt ihn eher in Gefahr, als dass es zu seinem Glück beiträgt. Das Glück des Zauberers ist das Leben selbst.

STANDARD: Pahroc fühlt ein vorbildliches Leben. Auch in schwierigen Zeiten verhält er sich anständig, hilft, wo er kann, und verzichtet später sogar auf Rache. Soll er den Lesern ein Vorbild sein?

Nadolny: Er ist ein guter Kerl. Bei ihm passt alles zusammen. Er hat verständnisvolle Eltern, findet eine wunderbare Frau und hat das Glück, mit ihr Kinder zu haben, denen er ein guter Vater ist. Sein Leben ist eine Glückskette, allerdings mit Unterbrechungen. Er wird verfolgt, kommt in den Krieg, hat Angst und leidet Not. Manchmal benimmt er sich auch wenig vorbildlich. Er stapelt hoch und ist ein Filou. Je nach Lebensphase erliegt er Versuchungen oder betreibt ein Geschäft, zu dem er nicht berechtigt ist.

STANDARD: Hatten Sie ein Vorbild für ihn?

Nadolny: Ich bediene mich aus mehreren Biografien, der meines Vaters und meiner eigenen. Vieles habe ich auch erfunden. Die Anregung, einen Zauberer zum Helden meines Romans zu machen und ihn Pahroc zu nennen, bekam ich von Kurt Kusenbergs Erzählung Zwist unter Zauberern. Ich verehre Kusenberg. Schon als Jugendlicher las ich gerne seine skurrilen Geschichten.

STANDARD: Ihr Roman ist weniger skurril als lebensbejahend und freiheitsliebend ...

Nadolny: Ich lasse die Zauberer Verfolgte sein. Sie besitzen Fähigkeiten, die einem Staat gefährlich vorkommen müssen: Sie können sich unsichtbar machen, aus Gefängnissen entweichen und Schaden stiften. Auf sie muss man aufpassen. Die Zauberer wiederum müssen verbergen, dass sie zaubern können. Zur Tarnung üben sie bürgerliche Berufe aus. Das macht den Zauberer zu einer Metapher für den freien Menschen, der unkontrolliert seine eigenen Wege gehen will. Er will sich nicht ständig unter Überwachungskameras bewegen und will Gedanken haben, die nicht anhand seines Internetverhaltens von irgendwelchen Maschinen ausgerechnet wurden.

STANDARD: Pahroc schreibt Briefe an seine Enkelin Mathilde mit vielen Lebensratschlägen. Wollen Sie auch Ihre Leser ermutigen?

Nadolny: Ich wollte einige Lebensweisheiten und -regeln loswerden. Das wäre ziemlich unerträglich, wenn ich sie als Katechismus mit mahnendem Zeigefinger servierte. Deswegen verpacke ich sie in Regeln über den Umgang mit dem Zaubern.

STANDARD: Kann man tatsächlich lernen aus den Lebenserfahrungen eines anderen?

Nadolny: Vermeidungsimperative sehe ich als wichtig an. Wenn man miterlebt oder erzählt bekommt, wie etwas schiefgeht, kann man daraus lernen. Weniger sinnvoll scheint es mir, auf das zu hören, was andere über das Lebensglück oder die Liebe sagen. Da muss jeder sein eigener Navigator sein auf dem Meer des Lebens.

STANDARD: "Liebe Mathilda, das Zaubern ändert zwar nicht viel am Lauf der Welt ...". Das klingt doch irgendwie ernüchternd. Wer bestimmt den Lauf der Welt?

Nadolny: Wir können alle dazu beitragen. Schon indem wir glücklich sind, können wir die Welt bessern. Jeder glückliche Mensch ist eine Bereicherung und eine Ermutigung für andere.

STANDARD: Nicht geliebt zu werden, sei der Grund für die Hälfte aller Morde ...

Nadolny: Geliebt zu werden ist eine so unglaubliche Entdeckung. Sie spiegelt sich auch in den Religionen wider. Warum soll ich meinen Nächsten lieben? Weil ich ihn dadurch besser mache! Wer geliebt wird, der wird in seiner Bösgläubigkeit entwaffnet. Er kann nicht mehr so böse sein, wenn man ihn liebt. Allerdings ist es ziemlich schwer, andere zu lieben. Vielleicht ist das eine Zauberkunst, die nicht jeder lernt.

STANDARD: Dennoch lassen Sie den Zauberer Babenzeller sagen: "... wir brauchen auch die Inszenierung des Bösen. Wie auf dem Theater ..."

Nadolny: Im Theater können wir uns mit dem Bösen, das unserer Vorstellung nach in der Welt ist, befassen, ohne dass es selbst eintritt. Wenn wir den Mephisto im Faust sehen, erscheint uns das Böse weniger furchterregend. Wir setzen uns mit ihm auseinander und machen uns Gedanken über "des Pudels Kern".

STANDARD: Ist dieser Babenzeller so ein Teufel?

Nadolny: Ich wollte einen furchterregenden Zauberer einbauen, vor dem alle Angst haben. Darum lasse ich ihn in Naziuniform erscheinen und schaffe diese unheimliche Szene. Aber dann löse ich ihn auf. Er ist ein Schalk und gar nicht böse. Aber er genießt es, böse zu erscheinen. Er glaubt, damit etwas Gutes zu bewirken, wie eben der Teufel auf dem Theater.

STANDARD: "Solche Taten sind nach meiner Schätzung mindestens alle zehn Jahre irgendwo auf der Welt nötig, sonst wird vergessen, dass Regierungen überhaupt zu großem Handeln fähig sind", heißt es über die Luftbrücke von Berlin ...

Nadolny: Die Abstände sollten sich vielleicht verringern. Das Zitat ist eine Anspielung auf Nelson Mandelas Aufforderung an seine Landsleute, manchmal gebe es Generationen, die Großes schaffen könnten, und sie könnten diese Generation sein. Versöhnung erwirken und Hilfsaktionen durchführen, die Großmut und Anstrengung verlangen, retten, helfen, Hassgefühle zurückstecken, das ist Größe für mich. Mit der Luftbrücke zeigten die USA dem ehemaligen Feind gegenüber Großmut. In der amerikanischen Vorstellung war Berlin das Zentrum, von dem aus Hitler die Welt mit Krieg überzog. Die Kriegsflugzeuge zu benützen, um die vom Sowjetimperium abgeschnittene Bevölkerung Berlins zu versorgen, war eine große Tat. Eine solche Tat wirkt über Generationen.

STANDARD: Brauchen wir heute in Europa eine solche Tat?

Nadolny: Es gibt eine Menge, worin Europa Größe zeigen sollte. Aber es zeigt leider viel vom Gegenteil. Angela Merkels Satz "Wir schaffen das" war erzwungen durch die katastrophale Situation der Flüchtlinge in Budapest. Es musste etwas getan werden. Aber diese Bereitschaft zur Hilfe zeigt einen Anflug von Größe. Die Hilfsbereitschaft der Menschen ist eine Größe, von der ich mir wünsche, dass sie anhält.

STANDARD: "Das 'Flüchtlingsproblem' existiert vor allem in manchen europäischen Gehirnen, realer ist das Problem der Mitleidlosigkeit", lassen Sie Pahroc schreiben ...

Nadolny: Mitleidlosigkeit hängt mit Fantasielosigkeit zusammen und damit, dass man sich das Einfühlen in andere Menschen abgewöhnt hat. Woher das kommt, weiß ich nicht. Aber es scheint mir heute eine um sich greifende Krankheit zu sein, dass man sich um andere nicht kümmert.

STANDARD: Der Bergsteiger Reinhold Messner bezeichnet Fantasie als wichtig für das Überleben. Sehen Sie das auch so?

Nadolny: Es ist ein Schatz an Möglichkeiten, auch an Lebensmöglichkeiten, der in der Vorstellung von Unrealistischem steckt. Man träumt Zusammenhänge, die irr und wirr erscheinen, daraus erwächst die Idee, etwas anders zu machen als bisher. Wenn man sich vorstellt, wie es wäre, unsichtbar zu sein, durch die Wand zu gehen oder in die Höhe zu entschweben, dann kann einem schon eine Idee kommen, bei der man ausruft: Ich hab's. Oder man gewinnt die Einsicht, dass etwas, das einem bisher wichtig erschien, nicht so wichtig ist.

STANDARD: Durch alle Briefe des Zauberers zieht sich Technikbegeisterung. Woher kommt die?

Nadolny: An sich können Zauberer auf Technik verzichten. Manche stehen ihr sogar ablehnend gegenüber wie Pahrocs Lehrer Schlosseck. Er ist ein konservativer, philosophischer Geist. Für ihn ist Technik nur die kleine Schwester der Zauberei und leider zu jeder Art von Prostitution bereit. Pahroc dagegen, der aus einfachen Verhältnissen stammende Indianersprössling, teilt die Begeisterung seiner Generation für die Technik und ihre Möglichkeiten. Er erwartet sich eine bessere Welt davon. Im Ersten Weltkrieg bekommt seine Begeisterung zwar einen Dämpfer, weil die Waffentechnik Entsetzliches anrichtet. Trotzdem hält sie an. In der Flugzeugtechnik sieht er einen Menschheitstraum in Erfüllung gehen. Der Rundfunk werde die Völker miteinander sprechen lassen, und die Kommunikation werde Frieden stiften.

STANDARD: Was Pahroc nicht wissen konnte, das ist der Rechtsruck bei den Wahlen in Deutschland und Österreich. Was würde er tun?

Nadolny: Ändern könnte er daran nichts. Er würde leiden. Denn er will für alle das Beste und Gerechteste. Ich nehme an, selbst als 110-Jähriger würde er das Gespräch mit den Wählern dieser populistischen Parteien suchen. Davon halte ich viel. Bloß traue ich mir nicht zu, meine Aggressionen im Zaum zu halten, wenn ich Hass oder Vorurteilen begegne. Dem Zauberer aber, der Gedanken lesen und eine andere Gestalt annehmen kann, helfen da ein paar Zaubertricks, um mit den Menschen zu sprechen und vielleicht einige zu einer anderen Sicht zu bewegen. (Ruth Renée Reif, Album, 11.11.2017)