Unternehmen würden zu viel in kosmetische und produktorientierte Relaunches und Public Relations mithilfe von smarten Beratern investieren und sich zu wenig um elementare Mängel in ihrer Unternehmenskultur kümmern.

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STANDARD: Professor Kriz, was läuft falsch in unserer Arbeitswelt?

Kriz: Folgen wir dem Schweizer Medizinsoziologen Johannes Siegrist, dann spielt das Ungleichgewicht zwischen Leistung und Anerkennung eine wichtige Rolle. Es trägt maßgeblich zu dem Gefühl bei, sich als ausgezehrt oder ausgebrannt zu fühlen. Sehen wir uns nun an, woraus dieses Ungleichgewicht resultiert, dann rücken auf der Leistungsseite permanenter Zeitdruck, viel Verantwortung, häufige Störungen bei der Arbeit sowie ständig anspruchsvoller werdende Aufgabenstellungen unter gleichzeitig hohem Erfolgs- und Unsicherheitsdruck in den Blick. Auf der Anerkennungsseite sind der Mangel an nötigem Respekt von den Vorgesetzten, die fehlende Unterstützung im führenden wie auch im kollegialen Verhältnis, überhaupt die in vieler Hinsicht als unfair registrierte Behandlung und dann natürlich die unsichere berufliche Zukunft belastend.

Letztendlich läuft die Problematik ganz erheblich auf eine in erschreckendem Ausmaß mangelhafte Unternehmenskultur hinaus. Dem diesbezüglichen Wortgeklingel nach außen fehlt die entsprechende Substanz nach innen. Ich jedenfalls registriere immer wieder erstaunt, wie viel Unternehmen in kosmetische und produktorientierte Relaunches und Public Relations mithilfe von smarten Beratern investieren und wie wenig sie elementare Mängel in ihrer Unternehmenskultur angehen. Dabei wäre die Investition in die Gestaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen, dazu liegen ja genügend Untersuchungen vor, in vielfältiger Hinsicht für die Unternehmen erheblich nutzenstiftender als der ganze aufgebauschte Schnickschnack. Weniger Klamauk und mehr Seriosität, das wäre ein sinnvoller Schritt zur Entschärfung der Problematik.

STANDARD: Was machen die, die sich so unwohl und in ihrer Leistungsfähigkeit beeinträchtigt fühlen, im Umgang mit sich selbst falsch?

Kriz: Die kritische Beschreibung der äußeren Umstände in der Arbeitswelt ist in der Tat nur die eine Seite der Medaille. Die Erwartungen an das, was ein "gutes Leben" sein könnte, und das Ausmaß der Abhängigkeit von äußerer Anerkennung gehören zur anderen Seite. Auch hier sind Trends zu beobachten: Beispielsweise hat die Entwicklungspsychologin Heidi Keller zu Recht die Förderung von "Ichlingen" durch Eltern, Kita, Kindergarten und Grundschule kritisiert. Dies sind die Kinder, die permanent ihren Eltern zurufen "Du sollst gucken" und für jeden noch so kleinen Beitrag Aufmerksamkeit und Lob erheischen wollen, bei Kritik und Zurechtweisungen aber sofort aufbegehren und sich mit Belastungen schwierig tun. Hinzu kommt, Kooperation und Hilfsbereitschaft in der Gruppe werden zu wenig gefördert.

Dennoch, wenn wir, pauschal gesagt, Burn-out vor allem als eine chronische Überlastung ansehen, dann gehören dazu auch selbstkritische Fragen: Lasse ich mich durch die Aussicht auf eine Gehaltserhöhung dazu verleiten, über mein physisches, psychisches und mentales Limit hinauszugehen? Könnte ich nicht doch mehr Hilfe durch andere einfordern? Oder durch eine Verhaltensänderung meinerseits bewirken? Beispielsweise indem ich aufhöre, meine Schwächen permanent zu überspielen? Muss ich mir denn unbedingt die Starrolle als personifizierte Stärke und Alleskönner zu eigen machen? Im Übrigen beruflich wie privat? Bewegt mich ein manipulatives Lob von oben oder von der Seite nicht zu unkritisch dazu, mir mehr als angemessen aufzuladen beziehungsweise aufladen zu lassen? Kurz: Welches Bild will ich zu welchem Preis von mir zeigen?

STANDARD: Soeben ist Ihr neues Buch "Subjekt und Lebenswelt – Personenzentrierte Systemtheorie für Psychotherapie, Beratung und Coaching" erschienen. Das klingt ganz nach einer systematischen Durchleuchtung der angesprochenen Probleme?

Kriz: Das Buch zeigt auf, wie in jedem Augenblick unseres Lebens Einflüsse aus körperlichen, psychischen, interpersonellen und kulturell-gesellschaftlichen Prozessen zusammenwirken. Therapeuten, Berater und Coaches schauen gewöhnlich nur auf die Zusammenhänge von psychischem und intra- wie interpersonellem Geschehen. Damit aber blenden sie wichtige Einflüsse aus. Das zweite große Thema im Buch ist die Betonung der subjektiven Seite des Erlebens. Wir schauen in Wissenschaft und Alltag meist und bevorzugt auf die äußeren Bedingungen. Doch schon beim Thema "Stress" wird deutlich, worauf schon vor mehr als einem halben Jahrhundert der Begründer der Stressforschung, Hans Selye, hingewiesen hat, wie gleichermaßen wichtig das subjektive Erleben ist, das selbst wiederum von vielen Faktoren abhängt.

In der Medizin sprechen wir in diesem Zusammenhang von Befunden und von Befindlichkeiten. Wobei wir auch hier dazu neigen, nur die objektiven Werte der Labore und des Mediziners zu beachten, also lediglich die Befunde. Gute Ärzte aber wussten schon immer, dass die Befindlichkeiten der Patienten genau so wichtig sind. Auf unser Thema, die Gestaltung der Arbeitswelt bezogen, bedeutet dies: Die Unterschiede in den Bedürfnissen, den Sichtweisen und Fähigkeiten und auch im Wollen der Menschen, die sind nicht wegzunormieren – etwa aus irgendeiner "objektiven" Gleichheitsideologie. Aufgabe der Unternehmenskultur wäre es, gerade diese Unterschiede für ein leistungsstarkes Miteinander in den Betrieben zu erschließen und zu nutzen. Das verlangt aber, vor dem Blick auf die als allein seligmachend angesehenen Zahlen zuerst die Aufmerksamkeit auf die Menschen zu richten, die die bestmöglichen Zahlen erarbeiten sollen.

STANDARD: Inwiefern tangiert unter psychotherapeutischen Gesichtspunkten die Entwicklung in der Arbeitswelt die Stabilität der Gesellschaft?

Kriz: Wie das immer heftigere Aufeinanderprallen von Meinungen zeigt, sehr. Die durch die vorrangig auf wirtschaftliche Belange zugeschnittenen Lebensbedingungen sind fraglos eine extreme Herausforderung in der Evolution des Menschen, in gesellschaftlicher wie individueller Hinsicht. Der rasante Wandel im Gefolge von Globalisierung und Digitalisierung konfrontiert die Einzelnen mit einer undurchschaubaren Vielschichtigkeit und sich wechselseitig beeinflussenden Turbulenz von Geschehnissen – und existenziellen Konsequenzen.

Allein schon das Thema Arbeitsplatzsicherheit untergräbt das Empfinden, noch Herr der Lage zu sein, die Dinge noch wirklich im Griff zu haben, das Leben noch wirklich selbstbestimmt gestalten zu können. Das für die Lebenssicherheit so wichtige Gefühl von Selbstwirksamkeit verflüchtigt sich. Stattdessen entwickelt sich ein destabilisierendes, permanent mitlaufendes Gefühl von Machtlosigkeit, von eigentlicher Ohnmacht all dem gegenüber. Die Suche, gar Sucht, nach Bereichen, in denen man etwas bewirken kann, wird dadurch gefördert: Spielsucht beispielsweise, Provokation und Aggression. Gesellschaftlich nimmt die Resignation zu beziehungsweise das Interesse ab, sich irgendwo einzubringen. Das alles sind keine guten Bedingungen für die Stabilität unserer Gesellschaft. Zumal schon Viktor Frankl, der Begründer der Logotherapie, auf die Sinnsuche und Sinnstiftung ausgerichteten Form der Psychotherapie hingewiesen hat, dass der Mensch von heute kaum noch durch Traditionen und Normen geleitet wird.

Die Stabilität unserer Gesellschaft wird derzeit doch vor allem dadurch aufrechterhalten, dass die meisten Menschen in Europa noch einen hinreichend guten materiellen Lebensstandard haben. Allerdings wird der Preis, wie sich zeigt, dafür immer höher und meldet sich immer deutlicher zu Wort. Nicht zuletzt auch dadurch beginnt das Empfinden zu wuchern, dass die Stabilität insgesamt und in der Folge davon auch die persönliche durchaus bedroht sind. Eine Einschätzung, die wiederum zu der bereits erwähnten Verunsicherung beiträgt. Wollen wir dem auf gesamtgesellschaftlicher Ebene entgegensteuern, kann ich als Psychotherapeut nur anregen, damit auf der Ebene der Unternehmen zu beginnen. Die sich bei den berufstätigen Menschen zeigenden Überforderungssymptome und Sinnlosigkeitsempfindungen deuten aus meiner Sicht zwingend auf diesen Ansatzpunkt hin. Sie sollten mindestens genauso sorgfältig in den Blick genommen und mit den entsprechenden Reaktionen bedacht werden wie die Ergebnisentwicklungen in den Bilanzen. (Hartmut Volk, 14.11.2017)