Auch Ärzte erliegen dem Diabetes-Klischee, bei schlanken Patienten tippen sie meist nicht auf die Zuckerkrankheit.

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Dick und Diabetes – diese Gleichung stimmt oft, und doch kann das Klischee in die Irre führen. "Nicht jeder Dicke wird zuckerkrank und nicht jeder Schlanke ist davor geschützt", sagt Norbert Stefan, Diabetesforscher am Uni-Klinikum Tübingen. Stereotype führen für ihn dazu, dass die Krankheit und vor allem ihre Vorstufen oft unentdeckt und unterschätzt bleiben.

"Das ist wie ein Tsunami unter der Wasseroberfläche. Und ohne frühes Gegensteuern trifft er auf Land", so Stefan. Diabetes mellitus ist eine Stoffwechselerkrankung, bei der die Regulierung des Blutzuckerspiegels gestört ist.

Mehr als 600.000 Menschen in Österreich sind von Diabetes mellitus betroffen. Den überwiegenden Anteil – rund 90 Prozent – stellen die Typ-2-Diabetiker. Bei diesem Typus ist ein Wechselspiel aus Fehlernährung, Bewegungsmangel und genetischen Anlagen Auslöser. Während Typ-1-Diabetiker (insulinabhängiger Diabetes), bei denen die Krankheit zumeist schon in der Jugendzeit ausbricht, sofort auf Insulin angewiesen sind und dementsprechend bei guter Schulung oft sehr gut betreut sind, entwickelt sich Typ-2-Diabetes (nicht-insulinabhänger Diabetes) oft schleichend. Bei der Diagnose sind häufig bereits Spätschäden durch jahrelang zu hohe Blutzucker-, Blutdruck- und Blutfettwerte vorhanden.

Prädiabetes ernst nehmen

Für Deutschland etwa schätzt Stefan, dass rund zwei Millionen Menschen unter Diabetes leiden, ohne davon zu wissen. Die Zahl der Vorstufen der Krankheit schätzt er auf noch einmal 20 Prozent – das wären rund 16 Millionen Menschen in Deutschland. Belegen kann er das nicht. Es sind Hochrechnungen, die sich an Statistiken in den USA orientieren. "Prädiabetes ist bei uns nicht als Krankheit anerkannt, ist also gar nicht auf der Agenda", sagt Stefan. Und doch erhöhe die Vorstufe innerhalb von etwa fünf Jahren deutlich das Risiko für die Schwelle zum echten Diabetes.

Für Vorstufen gibt es messbare Signale wie zu hohe Blutzucker-, Blutfett- und Blutdruckwerte. "Aber auch Ärzte erliegen dem Diabetes-Klischee", warnt Stefan. "Bei schlanken Patienten tippen sie meist nicht auf die Zuckerkrankheit." Dabei würden erbliche Faktoren und auch die ethnische Zugehörigkeit unterschätzt.

"Wer zum Beispiel eine lange Nomadengeschichte in seinen Genen trägt, hat wahrscheinlich heute noch einen natürlich erhöhten Blutzuckerwert", erläuterte Stefan. Das habe damit zu tun, dass Nomaden Hungerzeiten nur überlebten, wenn ihre Körper schnell Energie freisetzen konnten. "Für Menschen mit dieser genetischen Anlage ist eine Überernährung bereits im Bereich des Normalgewichts ein hohes Diabetes-Risiko", sagte er. Da reiche schon dauerhafter Fast-Food-Konsum.

Übergewichtige Kinder

In einer multiethnischen Gesellschaft müssten Hausärzte das berücksichtigen – zum Beispiel bei Menschen aus Nordafrika, Asien oder Polynesien. Und auch bei Kindern. Rund jedes siebente Kind in Deutschland gilt schon als zu dick, sechs Prozent sind bereits krankhaft übergewichtig. In Österreich sind beispielsweise rund 30 Prozent der Buben in der dritten Schulstufe übergewichtig oder sogar adipös. Bei den Mädchen reicht die Rate von 21 Prozent im Westen und Süden Österreichs bis zu 29 Prozent im Osten.

Viele betroffene Kinder stammen aus Migrantenfamilien, so Stefan. Ihre Eltern ahnen oft kaum, welchem Risiko sie ihre Kinder mit viel zu fetter und süßer Ernährung aussetzen. Diabetes bedeutet nicht nur Tabletten oder Insulinspritzen. Zu den Langzeitfolgen können gravierende Folgeerkrankungen wie Schlaganfall, Herzinfarkt, Netzhauterkrankungen bis hin zu Erblindung, Nierenversagen und Amputationen gehören. Wer als Kind erkrankt, kann diese Folgen nicht erst im Seniorenalter zu spüren bekommen, sondern schon mit 40.

"Diabetes wird generell immer noch zu spät erkannt", sagt Andreas Pfeiffer, Experte an der Berliner Charité. Dabei lasse sich die Vorstufe relativ leicht wieder loswerden. "Fünf Kilo abnehmen, eine halbe Stunde pro Tag körperlich aktiv sein und sich einigermaßen gesund ernähren – damit lässt sich das Risiko um 80 bis 90 Prozent senken", ergänzt Pfeiffer. "Aber Diabetes merkt man nicht, der tut nicht weh."

Gene erhöhen das Risiko

Zu ungesunder Ernährung kommen acht dominant erbliche Diabetesformen, die auch schlanke Menschen mit ganz bestimmten Genmutationen treffen können. "Das kann man auch für Kassenpatienten analysieren lassen", sagt Pfeiffer. "Die Zukunft werden Marker sein. In fünf bis zehn Jahren machen wir das als Routinediagnostik für das ganze Genom." Im Moment kennen Forscher rund 100 Gene, die das Diabetesrisiko erhöhen.

Ob nun dick oder dünn – Forscher Norbert Stefan würde sich für jeden Menschen einmal im Jahr einen Blutzuckertest wünschen. Und wenn es dann Auffälligkeiten gibt, weitere Checks auf Diabetes oder Vorstufen davon.

"Viele Leute sind motiviert zum Abnehmen, wenn sie mit 45 Diabetes haben", sagte sein Kollege Pfeiffer. "Wenn sie zehn bis 15 Kilo schaffen, kann der Diabetes dauerhaft weg sein. Aber nur, wenn sie das Gewicht halten. Das ist aber schwer." Generell denken die meisten Menschen beim Thema Abnehmen eher an eine gute Bikini- oder Badehosen-Figur. "Da stehen Schönheitsaspekte im Vordergrund, nicht die Gesundheit als Motivation", bedauert Pfeiffer. (APA/dpa, 8.11.2017)