Im Blogbeitrag "Was die Islamische von der Oktoberrevolution unterscheidet" war von den Biokosmisten die Rede, die – als überzeugte Kommunisten – die These vertraten, dass sich der Sieg der Oktoberrevolution dem Leiden und den Kämpfen vorangegangener Generationen verdanke. Vollendet sei die Revolution daher erst dann, wenn es gelänge, die Toten vergangener Generationen wieder zum Leben zu erwecken, und sie an den "Segnungen des Sowjetkommunismus" teilhaben zu lassen.

Die Ideen der Biokosmisten erinnerten uns an einen, Jahre später formulierten rätselhaften Gedanken des Philosophen und Literaturkritikers Walter Benjamin, der davon spricht, dass der Gegenwart eine "schwache messianische Kraft" innewohne, "an der die Vergangenheit Anspruch" habe. Ähnlich wie die Biokosmisten schreibt also auch Benjamin der Gegenwart das Potential – und die Verpflichtung – zu, die Vergangenheit zu erlösen – so als hätten die Biokosmisten diesen Gedanken Benjamins nicht nur vorweg-, sondern auch buchstäblich genommen

Wie könnten wir aber Walter Benjamin – wenn nicht buchstäblich – denn sonst interpretieren? Wie sonst könnte die Gegenwart die Vergangenheit "erlösen", wenn nicht durch das Bauen von Zeitmaschinen oder eben durch die Wiederbelebung der Toten – mit der Zeitmaschine verglichen, die wohl "realistischere" Variante?

Flashbacks: Zwischen Erinnerung und Halluzination 

Werfen wir – beim Versuch diese Frage zu beantworten – einen Blick zurück auf jene im Blogbeitrag "Was islamische Gotteskrieger von Revolutionären der Französischen Revolution unterscheidet" erwähnten seltsamen Rückfälle in die Vergangenheit – gerade in Zeiten, in denen sich die Gesellschaft anzuschicken scheint, eben diese Vergangenheit zu überwinden. Marx spricht in diesem Zusammenhang unter anderem von den Französischen Revolutionären, die sich als Bürger der altrömischen Republik "drapierten", von Napoleon, der sich als römischer Kaiser imaginierte oder von Cromwell, Führer der englischen Revolution, der sich mit den Propheten des Alten Testaments identifizierte. Diese revolutionären – und auch pseudorevolutionären – Regressionen hatten wir in Anlehnung an Freuds Verwendung des Begriffs "Regression" in der "Traumdeutung" zu analysieren – und zu klassifizieren – versucht. Und hatten dabei den Rückgriff der Französischen Revolutionäre auf die Antike eine symbolische Regression vom Typus Erinnerung genannt, jenen der IS-Kämpfer auf das Gotteskriegertum des frühen Islam eine (scheinbar) reale Regression vom Typus Halluzination.

Der Gedankenwelt der Biokosmisten, denen es um die Traumen der Vergangenheit zu tun war – und nicht um deren Glanz – können wir nun einen dritten Typus von Regression zuordnen: Die für Traumatisierte typische Regression vom Typus Flashback. Flashbacks sind, wie Erinnerung und Halluzination, das Ergebnis einer Regression im Wachzustand – siehe den Blogbeitrag "Was islamische Gotteskrieger von Revolutionären der Französischen Revolution unterscheidet". Ein Auslöser, der den Betroffenen an ein Trauma in der Vergangenheit erinnert, kann zu einer blitzartigen Vergegenwärtigung jenes Ereignisses führen. Der Betroffene hat den Eindruck, das traumatische Ereignis wieder zu erleben. Flashbacks haben einen starken, einem Film ähnlichen Realitätscharakter, somit einen Zwischenstatus zwischen Erinnerung und Halluzination.

Reinszenierung eines Traumas

Es drängt sich aber die Frage auf, ob der Rekurs auf historische Traumen nur ein Spezifikum der Oktoberrevolution darstellt. Ob also der Schein, dass es im Falle anderer Revolutionen immer (nur) um die Wiedergeburt einer glorreichen Vergangenheit ging und geht, nicht vielleicht trügt.

Zum Beispiel im Fall des Irans. In Analysen der Islamischen Revolution des Jahres 1979 wird diese – und die anti-amerikanischen Ressentiments, die sie wachrief – häufig in Zusammenhang mit einer historischen Wunde gesehen: Dem Sturz des populären Ministerpräsidenten Mohammad Mossadegh 1953, bei dem die CIA eine maßgebliche Rolle gespielt haben dürfte.

Der damalige Premierminister Mohammed Mosaddegh wird von seinen Anhängern bejubelt (1951).
Foto: AP

2009 kam es dann, ausgelöst durch gefälschte Präsidentschaftswahlen, zur Beinahe-Revolution der "Grünen Bewegung", die die Islamische Republik erschütterte. Zwar waren die Parolen der "Grünen" denen der Revolution von 1979 nachempfunden – Mussavi, einer ihrer Führer, sprach gar vom "Goldenen Zeitalter Khomeinis". Genauer betrachtet, erscheint jene Reinszenierung der 1979er-Revolution jedoch als Vergegenwärtigung eines Traumas: So wiesen die "Grünen" bei Kontroversen über ihre Strategie der Gewaltlosigkeit stets auf ihre Angst vor der Wiederholung des Traumas von 1979 hin – vor der Wiederholung der Islamischen Revolution und ihrer traumatischen Folgen.

Die Sehnsucht sogenannter Islamisten¹ nach der Rückkehr des "Goldenen Zeitalters des frühen Islam" können wir aber auch – auf einer grundsätzlicheren Ebene – als eine Art kollektiven Flashback, genauer: als Reaktion auf einen kollektiven Flashback, zu verstehen versuchen. Als Reaktion auf die kollektive Vergegenwärtigung bestimmter historischer Momente, in denen dem islamisch beherrschten Teil der Welt die militärische und zivilisatorische Überlegenheit moderner europäischer Gesellschaften bewusst wurde. Persien erlebte, wie in diesem Blog schon erwähnt, diesen Moment 1810, als es Russland im dritten der insgesamt vier Russisch-Persischen Kriege den Heiligen Krieg erklärte, und diesen dank der strategischen und technischen Überlegenheit der "Ungläubigen" – genauso wie die drei anderen – verlor.

Die Regression zum frühen Islam soll die Erinnerung an diese und andere historische Wunden ungeschehen machen. Der Glanz jener alten Zeiten die Wunden aus der jüngeren heilen.

Glanz und Elend

Halten wir uns die Differenz zwischen der Regression der Biokosmisten und jener der „Islamisten“ noch einmal vor Augen: Die Biokosmisten imaginierten die eigene Gegenwart als erlöst und die Vergangenheit als erlösungsbedürftig, während sich die „Islamisten“ angesichts der unerlösten, von Mangel gezeichneten Gegenwart islamisch geprägter Gesellschaften – umgekehrt – nach der glorreichen Vergangenheit des frühen Islam sehnen. Von dieser Gegenüberstellung ausgehend könnten wir die „islamistische“ Regression im Lichte des biokosmistischen dekonstruieren: Dann könnte sich der frühe Islam, jener glorreiche Sehnsuchtsort, ebenfalls als Ort des Mangels erweisen – unerlöst, wie die Toten der Biokosmisten. Und der „Islamist“ würde an jenem Ort der Vergangenheit, von dem er die Heilung der Gebrechen der Gegenwart erhofft, ihren Ursachen begegnen. Jener Sehnsuchtsort wäre dann der Ort eines nicht eingestandenen Zweifels. Und einer nicht gestellten Frage an einen ohnmächtigen – weil toten Gott:

Warum hast Du uns verlassen?

Der "Islamist" hätte es demnach mit einem doppelten Mangel zu tun: Der gegenwärtige Mangel – die Ohnmacht und das Elend der islamischen Welt – wird zum Auslöser seiner Rückwendung zum frühen Islam, wo er dem eigentlichen Trauma begegnet: Dem frühen Mangel  als Ursache des gegenwärtigen.

Die Rückkehr zum frühen Islam ist ein Versuch, historische Wunden zu heilen.
Foto: REUTERS/Ibraheem Abu Mustafa

Unvergangene Vergangenheit

Paradoxerweise ist es genau diese Struktur der doppelten Unerlöstheit des Islam, die Licht auf Benjamins dunkle Rede von der Erlösung der Vergangenheit werfen kann: Zu erlösen ist nicht die Vergangenheit als solche, nicht die vergangene, tote Vergangenheit – sondern die untote. Jene unvergangene Vergangenheit, welche die Gegenwart an der Erlösung hindert.

Um Benjamin zu verstehen, müssen wir ihn auf den Kopf stellen: Die Erlösung der Vergangenheit folgt nicht, als zweiter Schritt, der Erlösung der Gegenwart. Vielmehr bildet – umgekehrt – die Erlösung der unvergangenen Vergangenheit die Voraussetzung für die Erlösung der Gegenwart. Oder anders: Voraussetzung für die Erlösung der Gegenwart ist ihre Erlösung von dem Unvergangenen in ihr. Die Heilung noch immer nicht überwundener Traumen, die immer wieder zurückkehren. Der Flashback als Heilungsversuch.

Auch wenn sie es nicht wussten – und wissen: Den erwähnten Revolutionären (und Pseudorevolutionären) ging es nur scheinbar darum, der Vergangenheit "Name, Schlachtparole [und] Kostüm" zu entlehnen, wie Marx schreibt. Sie kehren zu jener Vergangenheit zurück, um sie zu überwinden. Die Gegenwart von dieser zu erlösen. Im Fall islamischer "Revolutionäre" entgleist der Heilungsversuch allerdings. Statt überwunden zu werden, kehrt die unvergangene Vergangenheit vollends zurück – und überwindet die Gegenwart. Der Flashback wird zur albtraumhaften Halluzination.

Phänomene wie der Islamische Staat, die Islamische Republik Iran oder die Taliban erscheinen uns wie Albträume aus einer barbarischen Vorzeit, die wir fern und vergangen wähnten. Nach dem Aufwachen mag es uns gelingen, jenen Albtraum mit oder ohne der Hilfe eines Psychoanalytikers rational zu deuten. Vergessen wir aber nicht, dass es nicht nur eine Flucht aus der Realität des Wachzustands in die Scheinwelt des Traums gibt – sondern auch eine Flucht aus der (scheinbaren) Realität der Albträume in die Rationalität des Wachzustands. (Sama Maani, 6.11.2017)

Ende der Serie.

¹ Zur Kritik des Begriffs "Islamismus", und seiner Verwendung siehe den Blogbeitrag "Warum wir statt vom Islam lieber von 'Islamismus' reden"

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