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Wohin mit Lenin? Der Nichtumgang mit dem einbalsamierten Revolutionsführer ist typisch für Russlands Umgang mit seiner Geschichte.

Foto: Reuters / Peter Andrews

Wächsern und fahl ist das Gesicht, der Körper in dem Glassarkophag scheint viel zu klein und schmächtig für die Rolle des großen Revolutionsführers, die ihm zu Sowjetzeiten zugeschrieben wurde: Die Idee, Lenin einzubalsamieren, war kurz nach seinem Tod schon umstritten – und doch liegt der Leichnam mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des sozialistischen Experiments noch im Mausoleum. 100 Jahre nach Ausbruch der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution weiß die russische Führung nicht, was sie mit dem Bolschewikenführer machen soll.

Der Umgang mit Lenin steht symbolisch für die ambivalente Haltung des Kremls zur Revolution insgesamt. Sie lässt sich auf die Formel "Nicht anfassen, um nichts zu zerstören" bringen. Seinen Status als wichtigster staatlicher Feiertag hat der 7. November als Jahrestag der Oktoberrevolution (nach gregorianischem Kalender gerechnet) bereits 1991 eingebüßt, nachdem sich erwiesen hatte, dass der Rückhalt der Partei "aus Lenin'schem Geist und von Stalin geschweißt" in der Bevölkerung mehr tönern als ehern war.

Gewohnheitsmäßig wurde er noch bis 2005 als arbeitsfreier Tag begangen, ehe er vom "Tag der nationalen Einheit" abgelöst wurde. Große Feierlichkeiten zum 100. Jubiläum sind in Russland, abgesehen von Parteiveranstaltungen der Kommunisten, auch heuer nicht geplant.

Auch eine historische Aufarbeitung fehlt noch. Dabei hatte Wladimir Putin noch Ende 2016 bei seiner Rede zur Lage der Nation das Jubiläum als "gewichtigen Anlass" bezeichnet, "um den Ursachen und dem Wesen der Revolution in Russland nachzugehen. Nicht nur für Historiker und Gelehrte – die russische Gesellschaft braucht eine objektive und ehrliche Tiefenanalyse der Ereignisse", sagte Putin.

Keine Aufarbeitung

Was folgte, war – nichts. Eine Doku soll es zum Jahrestag geben: "Zehn Monate, die die Welt erschütterten" – angelehnt an den Erfolgstitel des kommunistischen US-Journalisten John Reed "Zehn Tage, die die Welt erschütterten". Gezeigt wird der aber auch nur auf dem kaum zugänglichen Kabelsender des Föderationsrats.

Im Geschichtsunterricht wird das Thema in der zehnten Klasse behandelt, seine einst zentrale Rolle ist aber inzwischen deutlich geschrumpft. "Die Betonung wird auf die Größe des Ereignisses gelegt, aber es wird keine Wertung mehr darüber abgegeben, ob die Revolution gut oder schlecht war", sagt Geschichtslehrer Alexander Morosow. Zudem werden die Februar- und Oktoberrevolution als einheitlicher Prozess betrachtet.

Für die russische Führung ist die Situation pikant: Eine offensive Auseinandersetzung mit dem Roten Oktober und dem darauffolgenden, Millionen Opfer fordernden Bürgerkrieg birgt die Gefahr des Wiederaufbrechens gesellschaftlicher Konflikte. Die Gegensätze zwischen Monarchisten, Liberalen und Kommunisten sind im heutigen Russland unverändert stark.

Das zeigt der Streit um den Film "Mathilda", der eine voreheliche Affäre des Zaren Nikolaus II. mit einer Tänzerin thematisiert. Regisseur Alexej Utschitel wurde zum Feindbild orthodoxer Fundamentalisten, die den Zaren nach seiner Ermordung zum Heiligen stilisierten. Boykottaufrufe gegen den Film, Morddrohungen gegen Utschitel und Brandstiftungen folgten.

Ablehnung von Revolutionen

Umfragen zeigen: Ein Drittel der Russen heute kann oder will keine Einschätzung zur Revolution abgeben. Knapp ein weiteres Drittel meint vorsichtig, Vor- und Nachteile der Revolution hielten sich die Waage. Je ein Fünftel der Bevölkerung hingegen ist klar pro oder kontra eingestellt. Der Kreml sieht die Gefahr: Geschichte solle der Versöhnung dienen, meinte Putin daher vor kurzem.

Die Revolution ist auch machtpolitisch heikel: Auf die Nostalgie nach der scheinbaren Stabilität der Sowjetunion stützt sich Putin gern. Ihren Untergang bezeichnete er als "größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts". Doch ihr Entstehen durch eine Revolution passt so gar nicht ins politische Narrativ des Kremls. Die Ablehnung von Revolutionen hat sich nach den Protesten 2012 und dem Maidan in der Ukraine verstärkt.

Und so versucht die russische Führung einen gewagten Spagat: Für Russland wäre eine evolutionäre Entwicklung wohl besser gewesen, orakelte Putin nun. Doch für die globale Entwicklung sei die Konkurrenz eines utopischen Modells mit der kapitalistischen Ordnung ein mächtiger Treiber gewesen.

Ohne Blick auf die Errungenschaften des Sozialismus hätte es im Westen keinen Mittelstand und keine Sozialleistungen gegeben, befand der Kremlchef. Die Leiden der russischen Bevölkerung als Opfer für globalen Fortschritt – mit dieser These lassen sich in Moskau bei der anstehenden Wahl sicher Punkte machen. (André Ballin, 29.10.2017)