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Peter Steudtner wurde nach einem Workshop verhaftet, den Amnesty International und andere NGOs Anfang Juli in Istanbul organisiert hatten.

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Amnesty International protestierte – wie hier in Rom im Juli – gegen die Festnahme.

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Ankara/Athen – Ein Bauer weniger, aber langfristig mehr Vorteile: So könnte die türkische Führung am Mittwoch ihre Justiz spielen lassen, um das Verhältnis zu Deutschland etwas zu entspannen. Peter Steudtner ist der Bauer in dieser Schachpartie. Am Mittwoch um 10 Uhr steht er vor der 35. Kammer für schwere Straftaten im Istanbuler Justizpalast Çağlayan und wird angehört – erstmals nach mehr als hundert Tagen in Untersuchungshaft und zusammen mit zehn anderen angeklagten Menschenrechtlern, darunter Vorstand und Direktorin von Amnesty International in der Türkei.

Den Berliner Steudtner könnte das Gericht am Ende des Tages freilassen. Aus der U-Haft wohlgemerkt, nicht aus dem Strafverfahren, das der türkische Staat den Menschenrechtsaktivisten angehängt hat.

Für Deutschland ist das Maß voll

27 Deutsche sitzen seit dem Putschversuch und der Verhängung des Ausnahmezustands im Sommer vergangenen Jahres in türkischen Gefängnissen; 13 von ihnen haben auch die türkische Staatsbürgerschaft, darunter Deniz Yücel, Korrespondent der deutschen Tageszeitung "Welt". Nach der Inhaftierung Steudtners im Juli aber war für die deutsche Regierung das Maß voll. Sie änderte ihre Türkei-Politik, warnte vor Reisen ins Land, stoppte die Gespräche über eine Vertiefung der Zollunion zwischen der Türkei und der EU und führte beim Gipfel in Brüssel vergangene Woche einen Beschluss über die Kürzung der sogenannten Beitrittshilfen an die Türkei herbei.

"Unsere Beziehungen zu Deutschland werden sich beruhigen. Langsam, langsam. Warten Sie ab", berichtete am Dienstag Muharrem Sarıkaya, ein Kolumnist der Regierungszeitung "Habertürk", von seinem Gespräch mit Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu. Die Probleme mit Deutschland und der EU seien für die türkische Führung leichter zu reparieren als die Schwierigkeiten mit den USA, schrieb Erdem Gül in der regierungsunabhängigen Zeitung "Cumhuriyet". Gül steht nach seiner Verurteilung wegen "Geheimnisverrats" derzeit in einem Berufungsverfahren und darf arbeiten.

Viele Politiker im Spiel

Steudtners Anwälte sind sich nicht so sicher. Alles sei möglich, sagt Alptekin Ocak über den Verlauf der Anhörung am Mittwoch. "Es sind außerordentliche Zeiten in der Türkei, und zu viele Politiker haben ihre Hände in diesem Prozess", erklärt der Anwalt mit Blick auf Ankara wie auf Berlin. Doch sie seien optimistisch, sagt Ocak, "wir glauben an die Freilassung".

Ocak arbeitet mit Murat Boduroglu zusammen. Die Istanbuler Kanzlei wird seit Jahren von deutschen Geschäftsleuten und Journalisten in Anspruch genommen. Im Verfahren gegen die Menschenrechtler vertritt sie den 45-jährigen Steudtner und Ali Gharavi, einen iranisch-schwedischen Publizisten und Aktivisten. Steudtner und Gharavi waren als Vortragende bei dem kleinen Workshop engagiert, den Amnesty International und andere NGOs Anfang Juli gemeinsam auf der Istanbuler Prinzeninsel Büyükada im Konferenzzimmer eines Hotels organisiert hatten. Ein "Geheimtreffen" und ohne vorherige Genehmigung durch die Polizei auf der Insel, wie in der Anklageschrift vermerkt wird. Es ist nicht die einzige Absonderlichkeit in dem nur 17 Seiten langen Dokument der Staatsanwaltschaft – das "Geheimtreffen" fand in einem verglasten Raum statt, die Türen standen offen.

Übersetzer lief zur Polizei

Steudtners Übersetzer Ahmet Tunç Tunçten lief zur Polizei und berichtete von angeblich gefährlichen Verschwörungen, die in dem Hotel im Gange seien. Konspiration ist der Lebenssaft der Türkei, erst recht seit dem Putschversuch, den die Regierung ihrem alten Verbündeten, dem Prediger Fethullah Gülen, umhängte. Zehn CIA-Agenten hätten sich in der Putschnacht des 15. Juli 2016 bereits auf Büyükada getroffen, schwadronierte die Regierungspresse. Ein Jahr später sind es zehn Menschenrechtler. Das kann ja kein Zufall sein.

Die Inselpolizei stürmte das Hotel und nahm die Gruppe fest, darunter auch İdil Eser, die Türkei-Direktorin von Amnesty International. Ein Hinterbänkler der konservativ-islamischen Regierungsspartei AKP, Orhan Deligöz aus der ostanatolischen Provinzstadt Erzurum, trommelte jeden Tag neue angebliche Details über die gerade noch abgewendete Verschwörung. "Agenten" nannte Staats- und Parteichef Tayyip Erdoğan die Teilnehmer des Workshops. "Mitgliedschaft in einer Terrororganisation" machte die Staatsanwaltschaft daraus, wahlweise bei der Gülen-Bewegung, der kurdischen PKK, der linksextremen DHKP-C oder auch allen dreien gleichzeitig.

Steudtner und Gharavi werden nur in zwei Absätzen der Anklageschrift erwähnt. Bei Steudtner stellte die türkische Polizei einen Datenstick sicher, bei Gharavi fand sie eine Karte mit kurdischen Sprachgebieten in Vorderasien. Das reichte. (Markus Bernath, 24.10.2017)