Das schlimmste vom "Vergessen" eingenommene Ereignis ist das Massaker von Srebrenica und Potočari 1995, begangen von serbisch-orthodoxen Christenmenschen an muslimischen Menschen.

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Als damals die Alten über den Zweiten Weltkrieg reden, fällt oft die Feststellung: "Das vergisst man nicht!" Doch! Vergessen ist geradezu die größte geistige Leistung jener, die einen Krieg miterleben. Auch was den Krieg angeht, den ich beschlossen habe nie zu vergessen, den sogenannten Ex-Jugoslawien-Krieg, gibt es seltsame Erinnerungslücken.

Saubere Soldaten

Mein Lieblingsbeispiel sind jene, die Erwin Rommel als vielleicht einzigen sauber gebliebenen von Hitlers Heerführern nennen. Diese vergessen, dass in Rommels nordafrikanischem Machtbereich Judenvernichtungen stattgefunden haben, dass Rommels Soldaten der Wehrmacht dafür die Umgebung gesichert haben, damit kein Jude entkommt, und dass Rommel all das gewusst hat. Und sie vergessen auch die einzige saubere militaristische Ruhmesstunde des jungen Leutnants Rommel 1917 in der Schlacht von Longarone und Caporetto.

Die anderen sind solche, die bei Tito Bleiburg und die Nackte Insel vergessen, die bei Winston Churchill seinen Luftmarschall (sic!) Sir Arthur T. "Bomber" Harris und Dresden vergessen und die meinetwegen bei Kurt Waldheim, dessen Stimme gerade mit den Voyager-Sonden durch den interstellaren Raum rast, sein nazibraunes Pferd vergessen. Diese Liste ist lang.

Was viele Serben vergessen

Es ist nichts Besonderes, ein Serbe zu sein, und auf dem Amselfeld gibt es 1389 keinen verräterischen Vuk Branković, sondern nur eine verlorene Schlacht, nach der es noch fast ein Jahrhundert lang sowohl Serbien als auch serbische Fürsten und die ach so wichtige Orthodoxie gibt. Wer das Amselfeld zum Ursprungsmythos serbischen Heldentums nimmt, hat seine historischen Kenntnisse wohl aus dem berühmtesten Motiv für gobelinsüchtige serbische Omas, dem "Mädchen vom Amselfeld", das in dieser tragisch-heroischen Szene verwundete serbische Ritter mit Wasser labt, um ihre Qualen zu lindern.

Der andere Mythos ist jener von den Serben als einem Volk, das "Kriege gewinnt und den Frieden verliert". Erstens ist das nur ein dummer Spruch, der diplomatisches Versagen als Verschwörung darstellt, und zweitens ist er besonders dumm, wenn man ihn auf Slobodan Milošević anwendet. Einfach weil "Slobo" genau jeden Krieg, den er auf diesem Teil des Balkans herbeizündelt, mit Pauken und Trompeten verliert, und weil Serbien nach jedem dieser Kriege kleiner wird statt größer.

Das schlimmste vom "Vergessen" eingenommene Ereignis ist aber das Massaker von Srebrenica und Potočari 1995, begangen von serbisch-orthodoxen Christenmenschen an muslimischen Menschen. Und ganz besonders dumm ist es, wenn so manche Serben bis heute hinter gar nicht vorgehaltener Hand sagen, dies sei halt die Rache für das Amselfeld.

Was viele Bošnjaci vergessen

Damit der nichtbalkanische Leser dieses Textes mit dem Begriff "Bošnjaci" etwas anfangen kann, muss man etwas erklären. In Bosnien wird der dritte von Slobo angezettelte Krieg zum sprichwörtlichen Hexenkessel, in dem bald jeder gegen jeden Krieg führt: bosnische Serben gegen bosnische Kroaten gegen bosnische Muslime. Dabei fällt auf, dass zwei Entitäten, Serben und Kroaten, nach ihrer Ethnie benannt werden und die verbliebene Entität nach ihrer Religion.

Das ändert sich mit der Einführung der Bezeichnung "Bošnjak", die von und für die Muslime Bosniens eingeführt wird. Aber auch für jene, die Bosnien als Heimat für alle betrachten. Was mich betrifft, ist das nur würdig und recht. Allerdings ist es die Apotheose dessen, was viele muslimische Bošnjaci vergessen: wie sie zu Muslimen wurden. Und dieser Vorgang ist in einem Sprichwort bis heute verankert: "Bosna šaptom pade." Das heißt: Flüsternd fiel Bosnien. Und zwar 1463 an Mehmet II. Und das Flüstern soll suggerieren, es handele sich um Verrat und Intrige, die zum Köpfen des bosnischen Königs Stjepan Tomašević führt. Und nicht seine Sturheit, die Fehleinschätzung seiner Möglichkeiten und die Untätigkeit seiner Verbündeten.

Dazu gehört noch ein anderer Spruch, der in Bosnien nach dieser Zeit entsteht: "Kadija te tuži, kadija ti sudi!" Das heißt: Der Kadi klagt dich, der Kadi richtet dich. Dieser Spruch hält die Realität der nichtmuslimischen Untertanen fest, die aus Ausbeutung, Unterdrückung und dem "danak u krvi", dem Blutzoll besteht, der aus tausenden nichtmuslimischen Kindern, die ihren Eltern entrissen werden, Janitscharen macht. Und er erinnert daran, dass man dem Dhimmiat nur entkommen kann, wenn man den alten Glauben aufgibt und den neuen annimmt und fortan ein muslimischer Bosnier ist.

Am liebsten vergessen manche Bošnjaci jedoch, dass "Helden" wie Jusuf "Juka" Prazina, der "Wolf von Sarajevo", oder Ismet Bajramović "Ćelo" oder Ramiz Delalić (auch) "Ćelo" oder Mušan Topalović "Caco" immer nur eines sind: professionelle Spitznamenträger, Diebe, Vergewaltiger und Mörder. Nur keine Helden. Und dass auf ihren Dienstausweisen aus der Kriegszeit die Unterschrift von Alija Izetbegović aufgedruckt ist.

Was viele Kroaten vergessen

Am liebsten vergessen viele Kroaten, dass man als "antemurale christianitatis" nur die blutige Knautschzone und das Kanonenfutter für eine Dynastie ist, die von Schweizer Raubrittern abstammt. Außerdem steht man da nicht als Bollwerk für alle Christen, sondern nur für die Absonderung der katholischen Christen. Was nicht besonders christlich ist.

Diese Kroaten vergessen auch gerne, dass es egal ist, ob der kroatische Schriftsteller Miroslav Krleža oder jemand anderer das Copyright für den bekannten Spruch hat, der da lautet: "Sačuvaj me bože srpskog junaštva i hrvatske kulture" – Gott behüte mich vor dem serbischen Heldentum und der kroatischen Kultur. Es ist deswegen egal, weil es eine schlichte Wahrheit ist, dass Konfliktbewältigung durch Heldentum selten gelingt und dass Kultur etwas ist, das man in selbstbewusster Bescheidenheit pflegt, aber nicht wie einen Rammbock vor sich herträgt.

Am liebsten vergessen aber viele Kroaten, dass der Vater der Republik Kroatien, Franjo Tuđman, gleichzeitig den Titel als Titos jüngster General innehat. Sie vergessen auch, dass der geistige Weg, den Tuđman zurücklegt, ihn aus dem Kommunismus titoistischer Prägung nicht zum lupenreinen Demokraten führt, sondern geradewegs in eine Feudalfantasie von 200 auserwählten katholischen Familien, die die Wirtschaft Kroatiens kontrollieren sollen.

Nicht zuletzt, außer für diesen Text, vergessen viele, dass Tuđman, genauso wie Milošević und Izetbegović, über seine Partei und seinen Geheimdienst parallele Kommandostrukturen und paramilitärische Verbände einrichtet, die er für ethnische Säuberungen und unaussprechliche Verbrechen einsetzt. Und dass ihn nur sein Ableben vor einer Anklageerhebung vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag bewahrt. Wie Izetbegović auch.

Hab ich noch was vergessen? (Bogumil Balkansky, 30.10.2017)