Die angebliche "Entdeckung" der "N-Strahlen" durch René Blondlot 1849–1930 ist ein gutes Beispiel für wissenschaftliche Selbsttäuschung.

Foto: Académie des Sciences

Im Jahr 1904 besuchte der amerikanische Experimentalphysiker Robert Wood seinen französischen Kollegen René Blondlot an der Universität von Nancy. Er sollte dort der Präsentation eines neu entdeckten physikalischen Phänomens beiwohnen: Blondlot hatte eine bisher unbekannte Art von Strahlung entdeckt, die von fast allen bekannten Objekten ausgesandt wurde.

So wie Licht durch ein Prisma aus Glas aufgespalten wird und seine Eigenschaften untersucht werden können, wollte auch Blondlot die neue Strahlungsart mit einem Metallprisma analysieren. Er demonstrierte den Vorgang vor Robert Wood und beschrieb detailliert die Beschaffenheit und Stärke der Strahlung, die er beobachtete. Was Blondlot allerdings nicht wusste: Kurz vor dem Experiment hatte Wood in der Dunkelheit des Labors unbemerkt das Metallprisma aus dem Versuchsaufbau entfernt. Blondlot hätte also gar nichts beobachten dürfen!

Beachteter Forscher

René Blondlot war nicht einfach irgendwer. Er war ein angesehener Physiker, dessen Arbeit über elektromagnetische Strahlung mehrfach ausgezeichnet wurde. Er war 1891 der Erste, der die Geschwindigkeit der kurz zuvor entdeckten Radiowellen messen und so die Hypothese bestätigen konnte, dass es sich sowohl bei Licht als auch bei Radiowellen um elektromagnetische Strahlung handelt.

Zur damaligen Zeit war es auch absolut nicht ungewöhnlich, neue und bis dahin noch unbekannte Arten von Strahlung zu entdecken. 1895 fand Wilhelm Röntgen die heute nach ihm benannten Röntgenstrahlen. Zwei Jahre später entdeckte Henri Becquerel die Radioaktivität, J. J. Thompson konnte die Existenz des Elektrons nachweisen und zeigen, dass dieses Teilchen verantwortlich für die bis dahin nicht verstandene "Kathodenstrahlung" ist.

Bestätigung und Zweifel

Als René Blondlot also im Jahr 1903 ebenfalls die Entdeckung von bisher unbekannten Strahlen bekanntgab, kam das durchaus nicht überraschend. Bei seinen Experimenten hatte er beobachtet, dass sich die Helligkeit einer Lichtquelle veränderte, und führte das auf den Einfluss von Strahlen zurück, die er nach seiner Universität in Nancy "N-Strahlen" nannte.

Blondlots Forschung wurde von anderen Wissenschaftern aufgegriffen. Mehr als 100 Forscher aus aller Welt publizierten Arbeiten zu den N-Strahlen und verkündeten deren Beobachtung. Aber nicht allen gelang die Reproduktion der Ergebnisse aus dem Labor in Nancy. Darunter auch der deutsche Physiker Heinrich Rubens, für den der Misserfolg besonders peinlich war, wurde er doch von Kaiser Wilhelm II. höchstpersönlich um eine Demonstration der N-Strahlen gebeten.

Ein Trick entlarvt die Täuschung

Rubens setzte sich daher für eine ausführliche Überprüfung der Ergebnisse Blondlots ein und schickte dazu den Amerikaner Woods nach Nancy. Der, selbst schon ein wenig skeptisch ob Blondlots Behauptung, sah sich die Vorführung der N-Strahlen an und war nicht überzeugt. Er nutzte die Gelegenheit, um, wie oben beschrieben, das Experiment so zu manipulieren, dass Blondlot eigentlich nichts mehr beobachten hätte können. Blondlot aber beschrieb weiterhin die N-Strahlen, die er sah. Sein Assistent allerdings hatte den Eingriff von Wood beobachtet und bestand darauf, selbst auch noch einmal zu beobachten. Er konnte nun keine N-Strahlen mehr sehen – und das, obwohl Wood in der Zwischenzeit das Metallprisma unbemerkt wieder eingefügt hatte.

Wenn Blondlot erwartete, die N-Strahlen zu sehen, dann sah er sie – auch wenn sie laut Versuchsaufbau gar nicht vorhanden sein hätten dürfen. Blondlots Assistent erwartete keine Strahlen zu beobachten, und beobachtete auch keine – und das, obwohl sie laut Versuchsaufbau eigentlich vorhanden sein hätten müssen. Für Wood war damit klar: Die N-Strahlen gibt es nicht. Sie existierten nur in der Fantasie derjenigen, die an sie glaubten; sie waren eine Täuschung.

Pathologische Wissenschaft

Das Beispiel der wissenschaftlichen Erforschung der nicht existenten N-Strahlen demonstriert wunderbar, welchen Einfluss die subjektiven Erwartungen von Wissenschafterinnen und Wissenschaftern haben können. Man sieht nicht das, was wirklich da ist, sondern das, was man gerne sehen möchte. Man konzentriert sich nur auf das, was die eigenen Vorstellungen bestätigt, und übersieht das, was sie widerlegen könnte.

Die N-Strahlen sind ein Beispiel für das zeitweilige Versagen der wissenschaftlichen Selbstkontrolle. Obwohl da nichts war, was erforscht werden konnte, fand jede Menge Forschung statt, die jede Menge "Ergebnisse" lieferte. Diese wissenschaftliche Erforschung des Nichtexistenten hat der amerikanische Chemiker und Nobelpreisträger Irving Langmuir als "pathologische Wissenschaft" bezeichnet.

Niemals alle Zweifel aufgeben

Andere Beispiele dafür sind etwa die Erforschung der "kalten Fusion" gegen Ende des 20. Jahrhunderts oder die Untersuchung der "Marskanäle" im 19. Jahrhundert. Jedes Mal waren viele Wissenschafter überzeugt von der Realität dieser Phänomene, und dieses Wunschdenken ließ sie Dinge sehen, die nicht vorhanden waren. Erst als sich ausreichend viele falsche Forschungsergebnisse angehäuft hatten und die Kritik stark genug wurde, konnte der Irrtum aufgeklärt werden.

Die N-Strahlen sollten allen Wissenschafterinnen und Wissenschaftern eine ständige Lehre sein. Egal wie plausibel ein Resultat wirkt (und vor allem immer dann, wenn es ganz besonders plausibel wirkt): Man darf sich nicht nur auf sein eigenes Urteil verlassen! Niemand ist immun gegen diese Art des wissenschaftlichen Irrtums. Übrigens nicht einmal Irving Langmuir, der Erfinder des Begriffs "pathologische Wissenschaft". Er war bis zu seinem Tod fest davon überzeugt, funktionierende Methoden zur künstlichen Manipulation des Wetters entwickelt zu haben – obwohl es damals wie heute keinerlei verlässliche Belege dafür gibt, dass so etwas möglich ist. Aber das ist ein Thema für einen anderen Artikel dieser Serie ... (Florian Freistetter, 24.10.2017)