Wien – Trudy Jeremias wuchs als Trudy Epstein in einer nach ihren Worten "viel zu großen" zweistöckigen Villa in Wien-Hietzing auf. Die meiste Zeit verbrachte sie draußen mit den Söhnen des Gärtners. Deren Vater sei "ein großer Nazi" gewesen, der die Familie oft anzeigte. Eine Stunde Religionsunterricht pro Woche war "das Einzige, was in meinem Leben mit jüdisch wirklich zu tun gehabt hat", sagt Jeremias. Dann kam 1938 und der "Anschluss". Die Epsteins packten einen Container mit Möbeln und der Keramikwerkstatt der Mutter und flohen in die USA. Trudy war 13 Jahre alt.

An einem Julitag vor gut neun Jahren fragte ein Gedenkdiener aus Österreich die damals 82-Jährige in New York nach ihrer Lebensgeschichte. Die Tonaufnahme davon bewahrte das Leo-Baeck-Institut dort als Teil einer Sammlung von inzwischen fast 600 Interviews mit österreichisch-jüdischen Geflohenen auf.

Zwölf Lebensgeschichten von Hunderten finden sich auf der Webseite des Austrian Heritage Archive.
Foto: Rohrbach

Die 1955 von Emigranten gegründete Einrichtung will Kultur und Geschichte deutschsprachiger Juden bewahren. Ziel eines Projekts zweier Historiker in Wien ist es, dieses Vermächtnis nun in den deutschsprachigen Raum zurückzuholen. Das Austrian Heritage Archive wird Montagabend in Wien präsentiert. In der Nacht auf Dienstag geht es online und wird kostenlos für jeden einsehbar. Der Standard erhielt vorab Einblick.

Zwanzig Biografien

Zwölf aufwendig aufbereitete Lebensgeschichten enthält die Website, acht weitere sollen bis Jahresende folgen. Familienfotos, Bilder von besonderen Anlässen, Briefen und Dokumenten ergänzen die Audio- und Videoaufnahmen. Da die auf Deutsch, Englisch und mit manch hebräischem Wort geführten Gespräche transkribiert wurden, lässt sich gezielt nach Stichworten suchen. Wichtige biografische Stationen werden aufgelistet.

Trudy Jeremias (damals noch Epstein) mit ihrem Bruder Peter und dem Urgroßvater.
Foto: Leo Baeck Institut New York

"Wir wollten das wertvolle Material für Wissenschafter und Interessierte aufarbeiten", sagt Philipp Rohrbach vom Wiener Wiesenthal-Institut für Holocaust-Studien (VWI). Der Historiker leitet das Projekt gemeinsam mit Adina Seeger vom Verein Gedenkdienst. "Es ist sozusagen unsere Antwort auf die Frage, was geschieht, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt", sagt Rohrbach, der auch Gedenkdiener in den USA war. Eine seiner Befragten war Trudy Jeremias.

100 Gespräche in Israel

Ergänzend zu den Interviews in New York wurden extra für das Archivprojekt fast 100 weitere Gespräche in Israel geführt. Von den 1938 rund 210.000 in Österreich lebenden Jüdinnen und Juden flohen 30.000 Personen in die USA und 15.000 nach Palästina, dem späteren Israel. Das Austrian Heritage Archive erhielt vom Zukunfts- und vom Nationalfonds sowie vom Bildungsministerium finanzielle Unterstützung. Für die Aufbereitung weiterer Interviews bräuchte es laut den Projektleitern aber weitere Mittel.

Karl (heute Catriel) Fuchs um 1938 in Wien.
Foto: Leo Baeck Institut Jerusalem

Den Biografien der Sammlung ist gemein, dass sie von Flucht und ihren Folgen handeln, einem Thema, das an Aktualität nichts eingebüßt hat. Zugleich sind die Lebensläufe so verschieden, wie es Menschen eben sind. Die Biografie von Catriel Fuchs böte aufgrund der vielen Stationen Stoff für mehrere Lebensgeschichten. Der heute 92-Jährige wuchs als Karl Fuchs in ärmlichen Verhältnissen in Rodaun auf, damals noch ein Dorf vor der Stadtgrenze.

Fuchs wuchs in ärmlichen Verhältnissen in Rodaun, damals noch ein Vorort von Wien, auf.
Foto: Leo Baeck Institut Jerusalem

Keine Beziehung zur Religion

"Zum religiösen Judentum habe ich eigentlich nie eine Beziehung gehabt", sagte er im Interview vor rund vier Jahren. Er habe nur gewusst, "ich bin irgendwie anders". Seine Mutter war "praktisch alleinerziehend", noch als Volksschulkind musste er ins Waisenhaus, danach ins Jugendheim. Er fing mehrere Lehren an, hörte aber stets, "der taugt nichts". Fuchs erzählt auch, wie seine Mutter delogiert wurde und dass sie gezwungen wurde, mit der Zahnbürste die Schwedenbrücke zu putzen.

Als ein Mitglied einer zionistischen Jugendorganisation wurde er als junger Mann ausgewählt, nach Palästina auszureisen. Der zweite Versuch klappte – trotz Lungenentzündung und 41 Grad Fieber. Auf der Reise wurde er erneut festgenommen, im Gefängnis erhielt er Post von seiner Mutter. "Lieber Sohn, ich bin auf alles gefasst", stand in ihrem letzten Brief. Sie und Karls Schwester wurden 1942 nach Minsk deportiert und dort erschossen.

Catriel Fuchs (1. von rechts) mit einem Freund in Uniform der britischen Navy in Kairo.
Foto: Leo Baeck Institut Jerusalem

Catriel Fuchs gelang über Beograd und Skopje, Griechenland, die Türkei und Aleppo die Flucht nach Palästina. Dort arbeitete er in einem Kibbuz, in dem er seine spätere Frau Hilde kennenlernte, die ebenfalls aus Österreich geflohen war. Nach einem Gastspiel bei der britischen Royal Navy verdingte Fuchs sich als Lkw- und Taxifahrer, Möbelpacker, auf einer Ölplattform und als Reporter.

Intellektuell "mithatschen"

Später wurde er Angestellter einer großen israelischen Reederei. Durch die Arbeit dort verließ ihn langsam das Gefühl, nichts zu wissen und zu können. Zu fast jedem Thema hält Fuchs Buchtipps parat, sagt aber, mit Intellektuellen könne er "nur mithatschen".

Catriel Fuchs vor kurzem in Haifia, mit Reiseandenken und einem Bild seiner Familie.
Foto: Leo Baeck Institut Jerusalem

Die Reederei schickte Fuchs nach Paris, Frankfurt, Taiwan und Österreich. In Österreich verbrachte er neun Jahre. Das Land sei mit der NS-Vergangenheit "viel schlechter als Deutschland" umgegangen, meint Fuchs. Er sei da oft unterwegs gewesen, und "es gibt immer noch unterschwellig diese antisemitischen Vorurteile".

Die zerstörte Hietzinger Villa der Familie Epstein.
Foto: Leo Baeck Institut New York

Auch Trudy Jeremias hat Wien wieder besucht. Vor ihr verschlug es ihren Bruder Peter erneut dorthin: als US-Besatzungssoldat. Ein kurz vor ihm eintreffender Kamerad suchte die frühere Villa der Familie auf, traf dort den Gärtner an und teilte ihm mit, dass Peter Epstein kommen und sich rächen werde. "In der Nacht ist das Haus abgebrannt", erzählt Trudy Jeremias. Ein Bild der Brandruine im Archiv zeugt davon.

Trudy Epstein mit Pferd im Central Park.
Foto: Leo Baeck Institut New York

Die Lampe der First Lady

Ein anderes Foto zeigt Trudy mit einem Pferd im Central Park. Mit der Eingewöhnung in der New Yorker Schule tat sich die Jugendliche schwer, vor allem wegen Sprachbarrieren. Anderes gefiel ihr auf Anhieb: etwa, neben ihrem Vater durch den Park zu reiten. Ihre künstlerisch tätige Mutter kreierte auf der Suche nach neuen Einkommensquellen eine Lampe. Das erste Stück kaufte niemand Geringerer als First Lady Eleanor Roosevelt.

Ein Dankesbrief an die Lampendesignerin, signiert von Eleanor Roosevelt.
Foto: Leo Baeck Institut New York

Trudy Epstein heiratete, heuerte bei einer Fluggesellschaft an und wurde später Schmuckdesignerin. In den frühen 1960er-Jahren reiste sie für unbestimmte Zeit nach Wien, verließ es dann aber, "weil ich das Gefühl hatte, ich werde vermodern".

"Ich habe nie ganz hierhergehört, und ich habe auch nie ganz nach Wien gehört", sagt Trudy Jeremias.
Foto: Leo Baeck Institut New York

Ganz als New Yorkerin, wo die 92-Jährige heute lebt, fühlt sie sich aber auch nicht. "Ich habe nie ganz hierhergehört, und ich habe auch nie ganz nach Wien gehört", sagt sie relativ am Ende des fünfstündigen Gesprächs. Als ihr der Interviewer zum Schluss dankt, sagt sie über das Interview: "War auch für mich gut." So erinnere man sich "an viele Sachen, die sonst nicht zum Vorschein kommen". (Gudrun Springer, 21.10.2017)