Einer der gravierendsten Fehler der Grünen war es, das Thema Migration nie in seiner Bedeutsamkeit für die Bevölkerung erkannt zu haben.

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"In meinem Bekanntenkreis wimmelt es von 'Bauchweh-Grünen', die sich im BP-Wahlkampf kräftig engagiert haben, deren Stimme für die Grünen aber keineswegs sicher ist", warnte Georg Herrnstadt vor fast einem Jahr im STANDARD beinahe prophetisch und wandte sich damit insbesondere gegen die "gehässigen Abkanzelungen" von Peter Pilz durch die damalige Parteichefin der Grünen, Eva Glawischnig.

In der Tat. Die Signale der Unzufriedenheit selbst von Leuten, die lange Grün gewählt haben, waren eigentlich unüberhörbar, und das seit Jahren. Die Einzigen, die sie stets munter ignoriert und stattdessen eine künstliche Hurra-Stimmung am Leben gehalten haben, waren die Grünen selbst.

Notorische Realitätsverleugnung

Der in Fleisch und Blut übergegangene Reflex stupider Selbstbeweihräucherung scheint denn auch die einzige Erklärung zu sein für die große Überraschung, die am Wahlabend plötzlich in die erschütterten Gesichter grüner Spitzenpolitiker geschrieben stand.

Man hat es nicht wahrhaben wollen, und sogar dann nicht, als die Umfragen das Desaster schon ganz konkret vorhersagten. Ausgerechnet jene Partei, die den Anspruch auf Gebildetheit erhebt wie keine andere, hat sich in ihre Milieublase zurückgezogen und nichts mehr mitbekommen von dem, was außen um sie passierte, hat mit Kritik nichts anzufangen gewusst und war nicht zur Selbstreflexion bereit, sondern hat stattdessen notorisch Realitätsverleugnung betrieben, auf eine Weise, die man sonst nur von Sekten kennt.

Überschaubare Entwicklung

Dabei sind die Ingredienzen, die zu dem Debakel geführt haben, einfach und überschaubar. So rätselhaft ist es nun auch nicht, was da passiert ist. Poster "Meine Wortspende" bringt es auf den Punkt: "Wo die Grünen im Landtag sind, machen sie die Politik des Koalitionspartners. […] Was dachten die, wie ihre Wähler das gutheißen?"

Freilich, man verteidigt dieses Verhalten der Grünen häufig damit, dass eben "Kompromisse" gemacht werden müssten. Aber handelte es sich wirklich noch um einen bloßen "Kompromiss", als beispielsweise die grüne Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou jeglichen Widerstand gegen das Heumarkt-Projekt noch gewitzter niederargumentierte, als das irgendein Roter an ihrer Stelle getan hätte? Ist es wirklich notwendig, dass von manchen Grünen in Landesregierungen hinter vorgehaltener Hand schon gesagt wird, dass sie auch noch "im Liegen umfallen"?

Man ist eben nicht nur dem Koalitionspartner verantwortlich, sondern auch dem eigenen Wähler. Böser lästiger Wähler. Den gibt es halt auch noch. Und am Wahltag kommt man plötzlich erstaunt darauf.

Hainburg mit den heutigen Grünen?

Grün ist an den Grünen, nebenbei gesagt, dabei auch nicht mehr viel. Haben sich die Vorläufer der Grünen seinerzeit noch an Bäume gekettet, stehen nun auf einmal Grüne in Regierungen auf der Seite jener, die die Schlägerungen veranlassen. Stichwort Steinhof. Stichwort Natura 2000. Und ja, gerade angesichts Ingrid Felipes Umweltpolitik in Tirol bekommt man den Eindruck, heute würden die Grünen nicht mehr die Hainburger Au besetzen, um, wie es 1984 ihre Vorgänger gemacht haben, den Kraftwerksbau zu verhindern, heute wären sie auf der Seite derjenigen, die die Errichtung beschließen und durchsetzen!

Dafür fokussiert man auf Homo-Ehe und Gendern – Themen, von denen die Gründer-Grünen übrigens nicht einmal im Ansatz etwas wussten und die auch mit der originären grünen Idee gar nichts zu tun haben – vor allem aber sind es Themen, mit denen man bei den Wirtschaftsmächtigen nicht wirklich aneckt, höchstens bei ein paar Spießern und einigen ganz wenigen, denen die Schönheit der Sprache nicht völlig gleichgültig ist.

Kampf gegen rechts

Ihre zunehmende Seichtheit konnten die Grünen lange dadurch überzuckern, dass sie ihre Legitimation aus dem Kampf gegen rechts bezogen. Viele haben lange die Grünen gewählt, nicht weil sie von ihnen selbst so begeistert waren, sondern um rechts zu verhindern. Schließlich hat man auch den ehemaligen Grünen-Chef Alexander Van der Bellen deswegen zum Bundespräsidenten gewählt. Prompt verwechselten das die Grünen, glaubten, sie wären gemeint und gerieten in jenen irrationalen Freudentaumel, aus dem sie nun erst jetzt aufwachten.

Denn das Argument schlägt halt auch zurück. Aus demselben Grund sind die Grünen-Wähler genauso rasch abgewandert und haben nun stattdessen die SPÖ gewählt: um rechts zu verhindern. Was kann man daraus lernen? Immer nur Antifaschismus, immer nur darauf zu hoffen, man selbst würde schon immer wieder gewählt, weil dadurch jemand anderer Böser verhindert würde – das ist auf Dauer zu wenig in der Politik.

Fehleinschätzung Migration

Und dann schließlich natürlich das große Thema Migration, vielleicht das für den Wahlausgang bedeutendste und komplexeste, auf das ich hier darum nur ungenügend eingehen kann. Einer der gravierendsten Fehler der Grünen war es, dieses Problem nie in seiner Bedeutsamkeit für die Bevölkerung erkannt zu haben. Bei den Grünen glaubte man anscheinend, immer noch bloß ein paar notorische Ausländerfeinde, Fremdenhasser und dumme Rassisten gegen sich zu haben, wenn die Auswirkungen globaler Massenmigration sowie die daraus resultierenden schwerwiegenden kulturellen Umbrüche in den europäischen Gesellschaften bereits allgemeines tiefes Unbehagen auslösten.

Angesichts der sich aneinanderreihenden Nachrichten von IS-Anschlägen, Vergewaltigungen durch Asylwerber, Straßenkämpfen zwischen Tschetschenen und Afghanen sowie brutalen Ehrenmorden – nicht zu vergessen Pro-Erdoğan-Jubel-Konvois am Ring – hätte man unbedingt ein deutliches Zeichen setzen müssen, dass man die Sorgen und Ängste der Bürger ernst nimmt und teilt. So etwas ist nie gekommen. Man hat die Leute den Rechten überlassen.

Die Abspaltung von Peter Pilz und der Krieg mit den Jungen Grünen sind bei all dem eher in den Medien aufsehenerregende Schlussepisoden, späte Symptome dieser Geschichte der Grünen, als dass sie deren Ursachen darstellen würden. (Ortwin Rosner, 19.10.2017)