Stummelfüßer sehen aus wie Würmer mit kurzen Beinchen. Die urtümlichen Wesen fangen ihre Beutetiere mit einem Sekret, aus dem sich Polymerfasern bilden, wenn sich die Opfer bewegen.

Foto: Alexander Bär

Potsdam – Stummelfüßer geben Biologen immer noch einige Rätsel auf: Die wurmähnlichen Kreaturen zählen zu den Häutungstieren und sind vermutlich mit den Gliederfüßern näher verwandt. Wo sie allerdings genau im Stammbaum anzusiedeln sind, ist nach wie vor nicht völlig geklärt. Fest steht nur, dass sie bereits seit sehr langer Zeit existieren: Die ältesten Stummelfüßer-Fossilien weisen darauf hin, dass sie sich bereits bereits während des Kambriums entwickelt haben.

Um Beute zu fangen, schießen Stummelfüßer mit einem klebrigen Sekret, das sich unter Krafteinwirkung zu festen Fäden versteift. Das Besondere: Die Fäden lassen sich wieder auflösen und danach erneut bilden. Dass sich aus dem zuvor flüssigen Sekret reversibel Polymerfasern ziehen lassen, ist für Materialwissenschafter ein sehr interessantes Konzept.

Mechanische Kräfte machen die Fäden steif

"Die bei der Bewegung auf den Schleim wirkenden Scherkräfte sorgen dafür, dass dieser zu steifen Fäden aushärtet", erklärt Alexander Bär von der Universität Kassel. Um den Schleim einer australischen Stummelfüßer-Art genauer zu untersuchen, arbeitete der Biologe eng mit Forschern des Max-Planck-Instituts für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam zusammen. Die interdisziplinäre Wissenschaftergruppe interessierte sich dabei vor allem dafür, wie sich Zusammensetzung und Struktur des Sekrets während der Fadenbildung verändern.

"Wir wussten schon vorher, dass der Schleim vor allem aus großen Proteinmolekülen und Fettsäuren besteht", sagt Bär. Am Potsdamer Max-Planck-Institut fanden die Forscher nun heraus, dass Eiweiße und Fette gemeinsam winzige Kügelchen formen. "Die Stummelfüßer produzieren die Protein- und Fettmoleküle sowie weitere Komponenten separat", so Bär weiter. "Außerhalb der Drüsenzellen formen sich die Nanoglobuli dann eigenständig und sorgen für die fadenbildenden und klebrigen Eigenschaften." Die Kügelchen werden mit bemerkenswerter Präzision gebildet, denn sie sind einheitlich und im Durchmesser immer rund 75 Nanometer groß.

Ihre flüssige Waffe speichern die Stummelfüßer, bis sie zum Einsatz kommt. Durch Muskelkontraktion schießen sie den Schleim dann durch zwei Düsen an beiden Seiten des Kopfes auf Beute oder Feind. "Zunächst ändert sich dabei die klebrige Konsistenz nicht", sagt Bär. "Aber wenn sich das Beutetier bewegt und dadurch Scherkräfte auf den Schleim wirken, werden die Nanoglobuli zerrissen." Schwingungsspektroskopische Untersuchungen zeigten, dass Proteine und Fettsäuren dabei voneinander getrennt werden. "Während Proteine sich im Inneren des Schleimfadens zu langen Fasern formieren, werden die Fett- und Wassermoleküle nach außen verdrängt und bilden dort eine Art Ummantelung", so Bär. Die Forscher stellten auch fest, dass der Proteinstrang im Inneren eine Steifigkeit aufweist, die der von Nylon ähnelt. Das erklärt die besonderen Eigenschaften der Fäden.

In Wasser löslich

Durch weitere Versuche fanden die Wissenschafter heraus, dass sich die ausgehärteten Schleimfäden nach dem Trocknen binnen einiger Stunden wieder in Wasser auflösen lassen. "Erstaunlich für uns war, dass sich Proteine und Lipide dabei offenbar wieder mischen und es zur Bildung der gleichen Nanoglobuli kommt, die wir schon im Ursprungsschleim gefunden haben", sagt Matt Harrington, Koautor der im Fachjournal "Nature Communications" veröffentlichten Studie. Die neu gebildeten Eiweiß-Fett-Kügelchen wiesen sogar ähnliche Größen wie im natürlichen Sekret auf. "Offenbar gibt es also einen definierten Mechanismus der Selbstorganisation, den wir allerdings noch nicht vollends verstehen", so Harrington.

Für die Forscher auch interessant: Aus dem zurückgewonnenen Schleim ließen sich erneut klebrige Fäden ziehen. Unter dem Einfluss von Scherkräften verhielten sich diese wie das frisch ausgestoßene Stummelfüßer-Sekret: Sie erhärteten. "Das ist ein schönes Beispiel für einen vollständig reversiblen und beliebig wiederholbaren Regenerationsprozess", sagt Harrington. Der besondere Charme: Das Ganze erfolgt mit Biomolekülen und bei normaler Umgebungstemperatur. Für die Hersteller künstlicher Polymere also ein Modell, von dem sie sich vielleicht viel für eine nachhaltige Produktion von künstlichen Materialen abschauen können.

Die Biochemiker können sich gut vorstellen, dass man eines Tages versuchen wird, in ähnlicher Weise auf Basis nachwachsender Rohstoffe Makromoleküle für industrielle Anwendungen zu synthetisieren. Bei Spinnenseide sei es immerhin schon gelungen, entsprechende Proteine industriell zu produzieren und die daraus erzeugten Fasern an die Bekleidungsbranche zu liefern.

Spannendes Grundprinzip

Ein Polymer, das sich – wie der ausgehärtete Faden des Stummelfüßers – in Wasser wieder auflöst, wäre zwar vermutlich wenig praktikabel. Doch entscheidend für weitere Inspirationen bei der Materialentwicklung sei das Prinzip, so Harrington. "Im Moment geht es zunächst noch darum, die Mechanismen besser zu verstehen", betont der Spezialist für Biomaterialien. So interessieren sich die Wissenschafter etwa dafür, warum mechanische Scherkräfte überhaupt die Trennung der Proteine von den Fettmolekülen bewirken. Oder auch dafür, welche Faktoren die reversible Bildung der immer gleich großen Nanokügelchen steuern. Auch die Frage, wie sich die Proteineinheiten zu starren Fasern anlagern, ohne miteinander feste chemische Bindungen einzugehen, sei noch offen, so Max-Planck-Forscher Harrington. (red, 23.10.2017)