Soldaten und Polizeibeamte haben die Kontrolle über Rocinha übernommen. Sie liefern sich mit kriminellen Banden Schussgefechte in der größten Favela Lateinamerikas. Die Bewohner sind mittendrin.

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Stunden hat Giselle Gonçalves de Souza mit ihren zwei Kindern auf dem Boden im Bad gekauert. Es ist der einzige Raum, in den keine Querschläger einschlagen können. Zwei Jugendliche wurden in den vergangenen Tagen von verirrten Kugeln getötet, eine 16-Jährige, die gerade die Wohnungstür aufschloss, und ein 13-Jähriger auf dem Nachhauseweg. Mindestens zehn Menschen starben in den vergangenen vier Wochen im Kugelhagel in der Favela Rocinha, mehr als hundert wurden verletzt.

Gonçalves de Souza wohnt seit mehr als 20 Jahren in dem Viertel, hat aber eine solche Welle der Gewalt noch nicht erlebt. In Rocinha, Lateinamerikas größtem Armenviertel, tobt ein Machtkampf zwischen Drogenbanden – und mittendrin sind die Bewohner.

Besetzte Favela

Inzwischen ist Rocinha von Polizei und Militär besetzt. Vor der einzigen Zufahrtsstraße blockiert ein gepanzerter Wagen den Weg. Weder Busse noch Lieferfahrzeuge mit Lebensmitteln werden durchgelassen. Schwer bewaffnete Soldaten und Polizisten durchkämmen die Häuser auf der Suche nach Waffen, Drogen und Bandenmitgliedern.

Seit vier Wochen sind die Schulen geschlossen, die Lage ist zu gefährlich. "Alle Nachbarn haben sich über Whatsapp-Gruppen verbunden, damit wir wissen, wo gerade geschossen wird. Wir müssen ja irgendwie zur Arbeit kommen", sagt Gonçalves de Souza, die als Spülkraft in einem Restaurant arbeitet. Ihren Kindern hat sie verboten, auf die Straße zu gehen.

Rocinha ist eine Stadt für sich. "Die Regierung sagt, hier leben rund 70.000 Menschen, aber es sind 200.000", sagt Antonio Marques, Vizepräsident der Bewohnervereinigung. "Das wenige, was wir an staatlichen Zuwendungen bekommen, ist auf diese Zahl ausgerichtet." Die Situation sei sehr angespannt, berichtet er. "Wenn es dunkel wird, müssen alle in ihren Häusern sein. Die Kinder haben keinen Ort zum Spielen." Es gebe viele Beschwerden von Bewohnern, dass Polizisten ohne Grund in Häuser stürmten, die Bewohner beleidigten und alles auf den Kopf stellten. "Wir versuchen zu vermitteln, mehr können wir nicht tun", sagt Marques.

Konflikt zwischen Banden

Handyvideos zeigen, wie Gangmitglieder in militärisch anmutenden Uniformen durch die Gassen von Rocinha patrouillieren und dabei mit ihren Gewehren ungehindert posieren. Als Brasiliens größter TV-Sender die Videos zeigte, war das ganze Land geschockt.

Der "Boss der Bosse" in Rocinha, Antônio Francisco Bonfim Lopes alias Nem, wurde 2011 festgenommen und in ein Hochsicherheitsgefängnis im mehr als 3400 Kilometer entfernten Rodônia gesteckt. Doch die Geschäfte liefen weiter. Vor ein paar Wochen machte sich sein einstiger Verbündeter "Rogério 157" zusammen mit dem verfeindeten Kartell Comando Vermelho (CV, Rotes Kommando) daran, Nem und seine Gefolgsleute zu vertreiben. Ende September eskalierte der Konflikt in tagelangen Schießereien. Rios Regionalregierung holte das Militär zur Unterstützung.

Rios Staatssekretär für Sicherheit, Roberto Sá, versucht derweil zu beschwichtigen. "Rio ist nicht im Krieg, aber wir haben eine sehr schwierige Sicherheitslage", sagt er. Kurz zuvor war bekannt geworden, dass die Regionalregierung wegen der leeren Haushaltskassen das Budget für die Polizei um 30 Prozent gekürzt hat.

Versagen im Staat Rio

Dabei steht Rocinha symbolisch für das Versagen des Bundesstaates Rio de Janeiro. Nach den Olympischen Spielen vor 14 Monaten wurde das ganze Ausmaß der Finanzkrise sichtbar. Krankenhäuser mussten geschlossen werden, in Schulen fehlen Lehrer. Öffentlich Bedienstete einschließlich der Polizisten erhalten seit einem Jahr ihren Lohn nur mit Abschlägen und mit Verspätung ausgezahlt.

Die zuvor vertriebenen Drogenbanden triumphierten und kehrten in ihre alten Reviere in den Favelas zurück. Die Bewohner seien der Gewalt schutzlos ausgeliefert, sagt Livia Casseres von der Staatsanwaltschaft für Menschenrechte Rio de Janeiro. Der Einsatz von Militär und Polizei sei völlig ineffektiv im Kampf gegen das organisierte Verbrechen und eine "reine Machtdemonstration". Casseres kritisiert, dass Polizisten viel zu schnell zu ihren Waffen greifen, egal ob Schulen, Gesundheitsstützpunkte oder belebte Straßen in der Nähe sind. Sie verweist auf Rocinha, wo selbst die Wände von Grundschulen von Einschusslöchern durchsiebt sind.

Mehr als 900 Menschen wurden in diesem Jahr nach einer Studie des Instituts für Öffentliche Sicherheit bereits durch Querschläger in Rio de Janeiro verletzt, das entspricht rund 3,5 Fällen pro Tag. Gleichzeitig nahm die Zahl der Morde im Vergleich zum Vorjahr um 48 Prozent zu. (Susann Kreutzmann aus Rio de Janeiro, 19.10.2017)