Seit Generationen machen ungarische Schüler Ausflüge zur malerischen Burg und zu den Ruinen der einstigen königlichen Residenz Visegrád am Donauknie. Rund fünfzig Kilometer von Budapest entfernt ging die Burg im Herbst 1335, in der Glanzzeit des Anjou-Königs Károly Róbert, in die mitteleuropäische Geschichte ein. Damals empfing der ungarische König die Herrscher Tschechiens und Polens sowie die Prinzen aus Bayern und Sachsen. Fast 650 Jahre später knüpfte die erste nichtkommunistische Regierung an diese alte Tradition an, als Ungarn, die damalige Tschechoslowakei und Polen 1991 ein Freihandelsabkommen schlossen.

Etwas früher hatten sich Österreich, Italien, Jugoslawien und Ungarn in der sogenannten Zentraleuropäischen Initiative mit einem Büro in Triest zusammengeschlossen. Nach dem Zerfall Jugoslawiens traten Serbien, Kroatien und Bosnien der Organisation bei. Mit dem Beitritt Ungarns, Polens, der Slowakei und Tschechiens zur EU und Nato fielen beide Gruppen in einen Tiefschlaf. Die Visegrád-Vier erwachten erst in der Flüchtlingskrise durch den Weckruf des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Der Bau des Grenzzauns und Orbáns harter Kurs in der Migrantenfrage wurden nicht nur durch die eigene Bevölkerung, sondern auch in ganz Osteuropa unterstützt. Alle vier lehnen das EU-Modell einer quotenmäßigen Umverteilung von Asylbewerbern ab. Die Solidaritätsverweigerung durch diese Staaten, die drei bis fünf Prozent ihres Sozialprodukts durch EU-Geldtransfers decken, hat zu Recht in Brüssel, und nicht nur dort, Empörung ausgelöst. Zur historischen Erfahrung unter den kommunistischen Diktaturen kommt noch die fehlende Erfahrung mit Zuwanderung.

Ganz abgesehen von der Uneinigkeit der Visegrád-Staaten, etwa in der Russlandpolitik zwischen Budapest und Warschau oder hinsichtlich des autoritären Kurses in Polen und Ungarn, gibt es gewaltige politische und wirtschaftliche Unterschiede zwischen dem neutralen und wirtschaftlich blühenden Österreich und den vier postkommunistischen Nato-Staaten. Die viel höheren Nettolöhne in Österreich wirken als ein Magnet für viele tausende ungarische, slowakische, tschechische und polnische Arbeitskräfte. In Österreich sind übrigens jene FPÖ-Politiker, die in der letzten Zeit engere Kontakte, ja sogar einen Beitritt zum Luftschloss Visegrád fordern, die lautesten Kritiker der massiven Zuwanderung aus diesen Staaten.

Zu den weiteren gravierenden Unterschieden zählt die Kernenergie, die Österreich im Gegensatz zu den vier Staaten verfassungsmäßig ablehnt. Darüber hinaus ist Österreich ein offener Staat und nimmt noch immer zehntausende Asylanträge an. Im Gegensatz zum System der staatlichen Kleptokratie in Ungarn und zum Teil in der Slowakei, ist Österreich ein Rechtsstaat mit freien Medien, im krassen Gegensatz zum Ungarn und Polen.

Es ist bekannt, dass starke Männer mit autoritären Zügen wie Orbán und Putin von manchen westlichen Politikern insgeheim bewundert werden. Man darf trotzdem den internationalen Ruf Österreichs nicht aufs Spiel setzen. Das weiß wohl am besten der künftige Bundeskanzler. (Paul Lendvai, 16.10.2017)