Zuerst ärgerten sich die Abgeordneten, dass Christian Kern seine Erklärung für einen Wahlkampfauftritt nutzte. Dann störte es die Mandatare, dass er plötzlich nicht mehr da war.

Foto: Matthias Cremer

Wenn im Parlament die "lieben Österreicher und Österreicherinnen" adressiert werden, dann ist unzweifelhaft Wahlkampf. Das hat am Donnerstag, bei der letzten Sitzung des Nationalrats vor der Wahl eigentlich alle bis auf die SPÖ aufgeregt, aber sie haben dann doch mitgemacht, weil: Es ist Wahlkampf. Da ist jede Sekunde im Fernsehen Gold wert. Also fast jede, wie sich im Laufe der Sitzung noch zeigen sollte.

Ein trojanisches Pferd

Kanzler und SPÖ-Chef Christian Kern hatte als Tagesordnungspunkt zwei eine Erklärung zum Thema "Verantwortung für Österreich" platzieren lassen. Quasi ein trojanisches Pferd, das die roten Wahlkampfpositionen ins Hohe Haus hineinschmuggeln sollte. Überraschung war das für die Bewohner Trojas aber keine, denn die anderen Fraktionen im Parlament hatten sich längst in ihren Wahlkampflinien aufgereiht.

Waffengleichheit war also gegeben. Wenngleich auf der Regierungsbank ein Rot-Schwarz-Gefälle zu beobachten war. Kern hatte die rote Seite vollzählig versammelt, auf der schwarzen hielten nur Vizekanzler und Justizminister Wolfgang Brandstetter sowie Finanzminister Hans Jörg Schelling die Stellung.

Der Tag nach der Wahl

Kern hob um 13.21 Uhr an zu seinem "Appell" an die titelgebende "Verantwortung für die politische Kultur und das Vertrauen in die Demokratie". Die bisherige "Wahlauseinandersetzung" habe dazu "keinen guten Beitrag geleistet", alle Parteien, "auch ich und die SPÖ haben die Verantwortung, dass so etwas nicht mehr passiert". Er plädierte für eine "Kultur des Dialogs", denn, so Kern mit Blick auf den Wahltag: "Es wird einen Tag danach geben." Es sei ja auch einiges gemeinsam gelungen, etwa die Abschaffung des Pflegeregresses, und so solle es doch auch an diesem Tag sein.

In acht Minuten war sein "Weg des Miteinanders" erklärt, und das Wort ging an FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache, der meinte, "wenn es nicht so traurig wäre, dann müsste man fast lachen", Kern habe "fast Kabarett" geliefert. Von der proklamierten Verantwortung nahm er eine schnelle Kurve zum geschassten SPÖ-Wahlkampfberater Tal Silberstein ("Sie haben unser Land in eine Silbersteinzeit geführt") und zur "Bonzenschutzmauer" vor dem Kanzleramt – "und Sie tun so, als ob Sie nichts damit zu tun haben". Das sei "komplexes Führungsversagen" und Beleg dafür, dass es einen "Kurswechsel" brauche.

Als das Land "ausgsacklt" wurde

Als Nächster bekam die Rednerstaffel SPÖ-Klubchef Andreas Schieder, der auf Gegenangriff ging und Strache an das zum Teil bis heute gerichtsanhängige Erbe von Schwarz-Blau erinnerte, eine Zeit, in der "das Land ausgsacklt" worden sei. Ja, Richtungsentscheidung am 15. Oktober, aber doch weiter auf SPÖ-Kurs, der für Wirtschaftsaufschwung, Arbeitsplätze und Wohlstand stehe. Während ÖVP-Chef Sebastian Kurz zwar zu vielen guten Taten (sichere Pensionen, Unterhaltsgarantie, leistbare Mieten) im Fernsehen Ja sage, aber im Parlament dann Nein: "Das ist Zynismus."

Die Grünen wollen andere Politik machen: "Alle drei versinken im Wahlkampfsumpf und im Machtkampf, den die Bürger satthaben", beschied Klubchef Albert Steinhauser SPÖ, ÖVP und FPÖ. "Fakes und Dirty Campaigning gibt es mit den Grünen nicht", von Großspendern "politisch kaufen" ließen sie sich auch nicht.

Und weil die Grünen der Meinung waren, der Kanzler sollte bei der ganzen Debatte zur Erklärung des Kanzlers dabei sein, ließen sie darüber abstimmen, ob der da bereits abwesende Kern herbeizitiert werden sollte – Grüne, ÖVP, FPÖ, Neos und die freien Mandatare, aber auch einige SPÖler stimmten dafür, Kern zu holen. Nach der eingeschobenen Debatte zur Unterhaltsgarantie tauchte er dann gegen 17 Uhr wieder auf.

Bitte keinen Basar

Zuvor schickte die neue Volkspartei nicht mehr den Klubchef der alten ÖVP, Reinhold Lopatka, nach vorn, sondern den vermutlich türkisen Nachfolger August Wöginger, der Kerns Verantwortungscredo statt im Parlament eher auf "jedem Marktplatz" oder "vor der eigenen Haustür" besser angebracht gesehen hätte: "Sie haben den schmutzigsten Wahlkampfmanager der Welt geholt." Zudem warnte er vor einem "Basar" im Parlament und "budgetschädlichen Beschlüssen" – nicht zuletzt gegen die ÖVP, denn die werde auch in den letzten gemeinsamen Tagen der großen Koalition die SPÖ "nicht überstimmen". Der Misstrauensantrag der FPÖ gegen Kern verpuffte denn auch.

Neos-Chef Matthias Strolz positionierte seine Partei als "Kraft der Vernunft", besonders in Zeiten, in denen "ganze Volksparteien zum Populismus greifen". Er plädierte für einen "Neustart nach der Wahl", denn, so Strolz: "Das alte System ist zu Ende gefahren, auch wenn es neu gefärbt ist."

Auch das Ende ohne Zauber

Mit dem Ende beschäftigte sich auch Justizminister Brandstetter, der schon im Anfang seiner Vizekanzlerrolle im Mai mit Hermann Hesses Worten "keinen Zauber" zu erkennen vermochte. "Ich habe den Eindruck, auch diesem Ende wohnt kein Zauber inne." Aggression und Dirty Campaigning, das er "demokratiepolitisch für extrem gefährlich" hält, stellte er sehr wohl "Reste von Teamfähigkeit" gegenüber. Mit einer politischen Kultur des wechselseitigen Respekts könne man gemeinsam bestmögliche Lösungen erzielen.

Halbe Milliarde Mehrkosten

Die "Lösungen" vom Donnerstag kosten jedenfalls rund eine halbe Milliarde Euro. Der größte Brocken, nämlich 160 Millionen Euro, entfällt auf Änderungen bei der Notstandshilfe. Die Pensionsanpassung 2018, die schon länger zwischen SPÖ und ÖVP akkordiert war und auch ohne Wahl fällig geworden wäre, kostet 136 Millionen Euro. Für die Arbeitsmarktförderung von Behinderten werden zusätzlich 45 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, in ähnlicher Größenordnung schlagen die Verlängerung der Mittel für den Kindergartenausbau sowie die Abschaffung der Mietvertragsgebühr zu Buche.

Nicht alle Beschlüsse sind allerdings relevant für den Staatshaushalt. Die Übernahme der Internatskosten für Lehrlinge wird über den Insolvenzentgeltfonds finanziert. Die Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten, die am Abend mit Stimmen von SPÖ, FPÖ und Grünen und Übergangsfristen bis 2021 beschlossen wurde, wird zwar zu Mehrkosten bei den Betrieben, aber nicht beim Finanzminister sorgen. Im Jahr 2013 wurden vor der Wahl übrigens Gesetze im Wert von 2,8 Milliarden Euro beschlossen. (Lisa Nimmervoll, 12.10.2017)