Schwarzer Hosenanzug, weißes Hemd und Krawatte: Auch mit mittlerweile 70 Jahren bleibt Chantal Thomass ihrem Stil treu. Als die Französin 1975 ihr Dessous-Label gründete, verwendete sie für das Logo ihren Pagenkopf. Mit ihren erotischen Kreationen stand die Französin damals ziemlich allein da. Sie griff auf männliche Kleidungscodes zurück und war die Erste, die ihre Dessous auch auf dem Laufsteg zeigte. Unser Interview findet im Souterrain des Edelcabarets Crazy Horse in Paris statt. Madame stattete die Show "Dessous, Dessus" aus und bittet in ein rotsamtenes Boudoir nahe der Bühne.

Man könne beides sein, feminin und feministisch, sagt die französische Dessous-Designerin Chantal Thomass.
Foto: Chantal Thomass

STANDARD: Von den Tänzerinnen auf der Bühne abgesehen: Warum werfen sich Frauen in solch raffinierte Dessous – für sich selbst oder um Männer zu beeindrucken?

Chantal Thomass: Die Frauen tun das für sich selbst. Viele Französinnen tragen Lingerie täglich und nicht nur, wenn Samstag oder Weihnachten ist. Schöne Wäsche ist Alltagskultur. Sie gibt dir Selbstvertrauen. Du schaust deinen Körper an und denkst: Alles bestens! Gerade dann bist du besonders verführerisch, wenn du dich mit dir selbst wohlfühlst.

STANDARD: Warum bevorzugen Frauen nördlich der Alpen dann lieber Stretchgummi- und Angorawäsche statt sexy Dessous – wie der Blick in manch Kaufhaus-Wäscheabteilung zeigt?

Thomass: Vielleicht interessiert diese Frauen eher, was praktisch zu tragen ist. Aber auch im deutschsprachigen Raum habe ich Kundinnen, die ganz anders ticken. Grundsätzlich gibt es aber dort eher Wohlfühlwäsche. Die Mentalität ist nicht dieselbe, das ist wohl so.

STANDARD: Was macht denn nun diese lässige Attitüde der Französin aus, irgendwo zwischen "Laissez-faire" und "Je ne sais quoi"?

Thomass: Diese Haltung ist kein französisches Phänomen, hier stehen sich romanisch geprägte Kulturen wie Frankreich, Italien und Spanien einfach näher, die Mode ist körperbetonter. Dem gegenüber stehen deutschsprachige Länder, Belgien und Schweden.

STANDARD: Eine Dessous-Karriere wie Ihre wäre wohl in letzteren Ländern nicht möglich gewesen.

Thomass: ... ah ja?

STANDARD: Weil hier der modische Blick weniger detailverliebt und das Frauenbild ein anderes ist. Was ist die größere Kunst: den Körper der Frau zu zeigen – oder ihn zu verbergen?

Thomass: Es geht immer um beides. Hier im Cabaret läuft das Zeigen sehr deutlich ab, mit viel nackter Haut. Im Alltag mag ich das nicht so sehr. Ein Beispiel: Wenn du dein Dekolleté präsentierst, toll! Aber dann nicht noch die Beine im Minirock, womöglich auf High Heels. Kann vulgär wirken. Eleganz besteht aus einer Balance. Charmant, ja! Aber nie zu bemüht, nie zu kokett. Englische Frauen zum Beispiel mögen es gern provokant, so wirkt auch das Label Agent Provocateur. Das italienische Label La Perla dagegen ist classy und chic. So hat jedes Land seine Mentalität.

Inspirieren lässt sich Chantal Thomass genauso von Pin-up-Girls der 1930er- bis 1950er-Jahre wie von der Mode des 18. Jahrhunderts.
Foto: Chantal Thomass

STANDARD: Wo stehen Sie selbst, als Frau, als Feministin? Sind Sie das überhaupt?

Thomass: Mais oui! Ich bin feminin – und ich bin Feministin! Feminin schon deswegen, weil wir Frauen anders sind als Männer und das gern zeigen und uns dabei wohlfühlen wollen. Und ich bin Feministin, weil ich dagegen bin, Frauen als "femme objet", als Objekt zu deklarieren. Ich bin also sehr feministisch. Man kann beides sein: feminin und feministisch!

STANDARD: Im Sinne eines Alice-Schwarzer-Feminismus geraten nackt gezeigte Frauenkörper schnell einmal zum Objekt.

Thomass: Solange frau selbst entscheidet, was sie trägt, dabei Regie führt, ist sie Regisseurin und Verführerin – und kein Objekt. Du entscheidest selbst. Das ist der Unterschied.

STANDARD: Zu Ihren Anfängen: Ende der 60er-Jahre gründeten Sie das Modelabel Ter et Bantine – Prêt-à-porter mit starken Mustern und Farben nebst weiten Silhouetten. Welche Philosophie hatte das Label?

Thomass: Ter et Bantine war einfach Fun! Es war die Zeit nach '68, ein besonderes Lebensgefühl. Es ging um Freiheit – um jene neue Freiheit der Frauen, welche die Erfindung der Pille brachte. Auch Homosexuelle konnten sich freier bewegen. Wir haben getragen, was wir wollten, natürlich ohne BH, und niemand interessierte es. Und heute? Alle Frauen tragen BH. Heute sind wir geschockt, wenn eine Frau ihre Brüste nicht einpackt. Früher war es andersherum. Auch ich trage heute natürlich BH, das ist eine Alters- und Typfrage.

Foto: Chantal Thomass

STANDARD: Zurück zu Ter et Bantine, was bedeutet dieser Name?

Thomass: Mein erster Mann Bruce Thomass studierte Malerei an der Kunsthochschule Beaux Arts in Paris, während ich Kleider entwarf. Mit Anfang 20 starteten wir ein kleines Label und suchten einen Namen, der für zwei verschiedene Leute steht. Als Maler benutzte er Terpentin, der französische Name lautet "Essence de térébenthine". Daraus machten wir Ter et Bantine. Unser Label lief fünf Jahre gut, und ich lernte viel über Stoffe und Schnitttechniken. Anfangs hatte ich keinen blassen Schimmer – es ging um Spaß!

STANDARD: Wie kamen Sie vom Hippie-Flair der Seventies auf urfranzösische Nostalgie-Dessous?

Thomass: Irgendwann war der Hippie-Trend einfach vorbei. Das drückten wir auch in der Namensgebung aus und änderten das Label in "Chantal Thomass pour Ter et Bantine". Am Ende blieb nur mein Name übrig. Auf einem Defilee 1975 zeigte ich Lingerie als kleines Accessoires-Thema, denn ich mochte Wäsche schon immer. Ich sammle Bücher darüber, Zeichnungen alter Muster, Corsagen, Spitze, all das. Ich führte also auf dem Laufsteg Wäsche vor, obwohl ich selbst keinen BH trug damals, das war einfach nicht fashionable. Strumpfhosen und Nylons, das ja, aber keine Strumpfbänder, wie ich sie von meiner Mutter kannte. Für die Show habe ich eher zufällig Dessous entworfen, mit Gürtel, Bustier, witzigem Muster. Das hat eingeschlagen, die Kunden wollten sofort ordern, auch die Presse war begeistert. Also habe ich immer öfter Lingerie entworfen. Ich war übrigens die Allererste, die Wäsche über den Laufsteg schickte. Doch vor allem die Dessous-Bilder landeten weltweit in der Presse, das machte mich verrückt.

STANDARD: Auf ihrer Blonde Ambition Tour trug Madonna 1990 jene berühmte Corsage mit Kegelbustier, entworfen von Jean Paul Gaultier. Mit den vorgeformten Spitztüten kommt die Corsage recht aggressiv rüber, Madonna wirkt darin wie ein Krieger im Panzer. Die Chantal-Thomass-Entwürfe haben da andere Ziele, scheint es.

Thomass: Es macht schon einmal einen Unterschied, ob das Design von einer Frau oder einem Mann stammt. Als Frau frage ich mich ständig: Möchte ich das selbst tragen, oder meine Freundinnen? Männer überformen den weiblichen Körper, man denke an die ausgeprägt konstruierten Schultern und die Wespentaillen von Thierry Mugler oder Claude Montana. Männer fragen nicht: Trägt es sich gut? Schauen Sie auf die Entwürfe von Coco Chanel oder Sonia Rykiel, sie sind viel tragbarer. Außerdem hatte Gaultier das Outfit für die Bühne entworfen, es ist ein Zirkuskostüm wie es Rihanna oder Beyoncé heute on stage tragen. Als Designerin denke ich darüber nach, was Frauen im Alltagsleben möchten.

Im Pariser Cabaret Crazy Horse lief zuletzt eine von der Designerin ausgestattete Show.
Foto: Chantal Thomass

STANDARD: Gab es ein Schlüsselerlebnis, das Sie dazu veranlasste, Designerin zu werden?

Thomass: Als Schülerin mochte ich die Schule gar nicht, steckte aber ständig die Nase in Modemagazine. Meine Eltern ticken eher klassisch. Meine Mutter war Schneiderin, wusste aber nicht viel über Haute Couture. Seit ich 13 war, wollte ich anders sein als meine Eltern. Später suchte ich nach verrückten Stoffen und brachte sie meiner Mutter, damit sie mir Kleider für Besuche in den Nightclubs der Pariser Szene nähte. So fing es an.

STANDARD: Wo finden Sie die Inspirationen für Ihre aufwendigen Spitzen- und Seidendessous?

Thomass: Ich habe mich immer von alten Magazinen inspirieren lassen und besitze eine große Sammlung aus den 1920er- und 30er-Jahren, auch aus dem Jahrhundert davor. In Stoffmuseen und Archiven findet man alte Vorlagen, für deren Nutzung man zahlen kann. Im Grunde hat es ja alles schon einmal gegeben. In der Stadt Calais, wo Spitzen eine alte Tradition haben, bin ich auf sehr modern wirkende Entwürfe mit geometrischem Muster gestoßen – doch sie stammen von 1890.

STANDARD: Seit rund 40 Jahren tragen Sie Ihren berühmten "coupe carré noir", einen akkurat geschnittenen Pagenkopf in Lackschwarz, dazu einen hellen Teint und knallrote Lippen. Sie sagen selbst, dass Sie im Lauf der Jahre zu Ihrem eigenen Logo wurden. Wer ist die Frau dahinter?

Thomass: Wissen Sie, ich lebe meinen Stil schon so viele Jahre, da gibt es keinen Unterschied. Ich trage meinen echten Namen, ich zwinge mich zu nichts, ich will nichts an mir ändern. Das ist bequem so und fühlt sich gut an. Das bin einfach ich!

STANDARD: 1985 haben Sie Ihr Label verkauft und später die Rechte zurückerkämpft. Warum?

Thomass: Damals hatten mein Mann Bruce Thomass und ich finanzielle Probleme. Wir waren ja eher Künstler als Geschäftsleute. Die Firma wurde immer größer mit Kunden in zahlreichen Ländern. Wir verkauften 1985 also 66 Prozent an eine japanische Firma, die uns den dortigen Markt öffnete. Das lief acht Jahre gut, ich konnte tolle Shows in Paris produzieren und die Modelle nach Japan verkaufen, wo 22 Chantal-Thomass-Boutiquen eröffneten. 1993 geriet diese Firma selbst in die Krise, verkaufte an Italiener, welche mich wiederum bekämpften, bevor auch sie drei Jahre später pleitegingen. Da war ich dann happy! Danach konnte ich meinen Namen wieder nutzen und habe Labels wie Wolford und Victoria's Secret beraten. Seit 2011 gehört mein Label zur französischen Firma Chantelle, und es läuft sehr gut.

STANDARD: Sie haben bereits Bettwäsche, Uhren und Taschen entworfen, Bücher geschrieben und Hotels eingerichtet. Was kommt als Nächstes?

Thomass: Ich bin neugierig, was kommt. Ich habe immer wieder Lust auf Neues, neue Dinge zu probieren. Ich überrasche mich da immer wieder selbst. (Franziska Horn, RONDO, 16.10.2017)

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